Lebensdaten des Komponisten
4. März 1678 in Venedig – 28. Juli 1741 in Wien
Entstehungszeit
Mitte der 1710er-Jahre
Erstdruck
1725 in Amsterdam bei Michel-Charles Le Cène innerhalb der Sammlung von 12 Concerti Il cimento dell’armonia e dell’inventione, op. 8
Widmung
Wenzel Graf Morzin, der Vivaldi vermutlich 1718 anlässlich einer Italienreise kennenlernte und ihn in den 1720er- Jahren regelmäßig für Kompositionen bezahlte
Das Werk beim BRSO
Erstaufführung: La primavera (Concerto I) am 4. Juli 1993 bei Klassik am Odeonsplatz mit Andreas Röhn, Violine; Leitung: Lorin Maazel.
Aufführung des gesamten Zyklus am 6. Oktober 2003 im Prinzregententheater mit Julian Rachlin und dem Kammerorchester des BRSO.
»Der Meister stieg auf das Podium, griff sich eine Geige, hob den Bogen, und mit zwei energischen Bewegungen entfesselte er das gewaltigste concerto grosso, das die Welt je hätte hören können. Sobald das frenetische allegro entfacht war«, stürzte sich Antonio Vivaldi »mit unwahrscheinlicher Wucht in die sinfonie-konzertante Manier«, während Georg Friedrich Händel sich »in blendenden Variationen erging, die alle Normen des Generalbasses mit Füßen traten.«
Dieser gemeinsame Auftritt, wie ihn Alejo Carpentier in der Novelle Barockkonzert schildert, ist natürlich frei erfunden. Aber die Szene zeigt sehr schön, dass eine Konzertaufführung weniger auf die korrekte Ausführung der Noten abzielte als auf eine »Performance« im weitesten Sinn. Virtuos, spontan, körperlich, gestisch, extravagant – eben zutiefst theatralisch. Das italienische Barock tendiert dazu, die klassische Ausgewogenheit zu kippen, Staunen zu erregen, ja selbst ein Gemälde zu dramatisieren. In der Musik verkörpert Vivaldis Virtuosität diese Ästhetik am besten, »denn«, so staunt ein Zeitgenosse, »dergleichen ist ohnmöglich so jemahls gespielt worden, noch kann gespiehlet werden«. Höchst erstaunlich ist auch Vivaldis berühmtestes Werk: Le quattro stagioni. Wenn die Solovioline zu Beginn sogleich zwitschert und Blitze schleudert, ist das schon ein Stück Theater.
Die Jahreszeiten waren schon lange ein Thema in Kunst und Literatur. Vor dem Industriezeitalter lebten die Menschen noch ganz in ihrem Rhythmus, der Natur und der Witterung unterworfen. Ein zu heißer, trockener Sommer, zu viele Unwetter konnten schon Hunger nach sich ziehen. Heute geht man im Sommer zum Baden und in den Biergarten, früher galt er neben dem Winter als eher unangenehme Jahreszeit. Dagegen brachte der Herbst keineswegs Melancholie, sondern Freude über die Ernte. Und nach einem langen Winter bei Talglicht und kümmerlichem Feuer bedeutete der Frühling geradezu eine Wiederauferstehung.
Bedrohte Idylle – Der Frühling
In seinem erklärenden Gedicht zeichnet Vivaldi den Frühling als arkadisches Paradies, einen mythischen Ort des Friedens und Glücks. Die seltene Tonart E-Dur wirft schimmerndes Licht darauf, die Ritornellmelodie bringt reine Freude zum Ausdruck. Und doch ist die Idylle bereits gefährdet, wie die grollenden und blitzenden Saiten wissen lassen.
Vivaldi bedient sich der üblichen Tonmalereien, aber so plastisch, so frappierend treffend findet man sie sonst kaum. Man beachte etwa die dreistimmig ausgefeilten Vogelkonzerte und das konzis und dramatisch angedeutete Gewitter. Dazu kommt der wirklich extravagante Einfall mit dem Hund, dessen Wau-wau (auf der Bratsche »gerissen«) den Bass zu der hypnotischen Schlafmelodie des Largo beisteuert. Selbst die Dudelsack-Pastorale im Schlusssatz ist differenziert ausgemalt und trotz der liegenden Klänge nie eintönig wie oft in solchen Stücken. Gegen Ende verfällt das fröhliche Tänzchen für eine Weile ins Moll, Klage wird laut. Die Hirten wissen: Das Frühlingsglück ist nicht von Dauer.
Extremwetter – Der Sommer
Schwächlich, stockend, hinsinkend: Die abgerissenen Motive sind unfähig, die Musik in Bewegung zu setzen. Die allgemeine Erschöpfung unter der sengenden Sonne des Sommers wird fast körperlich spürbar. Dann legt plötzlich, wie von der Tarantel gestochen, die Solovioline los, mit aufgeregten Sechzehnteln, und zwischendrin ruft auch noch der Kuckuck: Extreme Kontraste brechen Vivaldis gewohnte Ritornellform auf. So schlagen auch die säuselnden Triolen eines erfrischenden Lüftleins brutal um in einen Sturm rasender Töne. Die Violine verleiht nun dem völlig verängstigten Bauern ihre Stimme und singt ein verzweifeltes, harmonisch extrem gespanntes Lamento, wohl das expressive Herzstück des ganzen Zyklus. Und nachdem im Adagio der nahende Donner dem Armen auch noch den Schlaf geraubt hat, bricht im Finale das gefürchtete Unwetter erst mit voller Wucht los. Tremoli, Tonleitern und Dreiklänge repräsentieren die elementaren Naturgewalten und ballen sich zu überwältigender Klangmacht. So zeigt das Sommerkonzert das Drama des Menschen, der die Natur zum Leben braucht und ihr zugleich ausgeliefert ist.
Lustige Musikanten und grausame Jagd – Der Herbst
Nach einer Tragödie bietet das barocke Theater gerne etwas zum Lachen, und so macht es auch Vivaldi. Zunächst darf man sich über das Erntedankfest der Bauern freuen. Allein schon diese Musikanten, die gerade noch einen dritten Ton für ihre Zwei-Ton-Melodie finden! Das Fest artet bald in ein Besäufnis aus, das Vivaldi als virtuose, urkomische Pantomime inszeniert: Die Solovioline verkörpert einen Betrunkenen, der beim Tanzen wild herumtorkelt, schwankt, hinfällt und schließlich einschläft. Süße Träume hat er nicht: Selbst beim Hören des Mittelsatzes machen ihn die haltlosen Harmonien und die wie in Zeitlupe kreisenden Melodie ganz schwummrig.
Das Herbstvergnügen der Adeligen war die Jagd. Trefflich ahmt die Solovioline ein Paar Hörner nach, dann übernimmt sie die Rolle des gehetzten Tieres. Das Orchester liefert die Schüsse und den Lärm der Treiber und Hunde. Immer wieder schreckt die Meute das erschöpfte Tier auf, bis es nach einem letzten Aufbäumen stirbt. Erschütternd zeigt Vivaldi die Grausamkeit einer solchen Parforcejagd, aber das Publikum hat wohl auch daran seinen Spaß gehabt …
Gefrorene Musik – Der Winter
Sausende Winde und murmelnde Quellen, Tierlaute, Tanz und Trubel machen dem Musiker die Darstellung leicht. Wie aber soll er Eis und Schnee malen, eine stille, erstarrte Natur? Zu Beginn von Vivaldis Winter schichten sich stehende Töne übereinander, mit knirschenden Dissonanzen, fast – will man sagen – wie Eisplatten. Diesem festgefrorenen Ritornell setzt die Solovioline heftige Windböen entgegen, ebenfalls schneidend kalt. Nun müssen sich auch die Menschen bewegen: laufend, füßestampfend, zähneklappernd. Faszinierender als dieses etwas platte Programm ist aber – ähnlich wie im Sommer – die rein musikalische Idee: rasante, treibende Dynamik gegen lähmende Statik. Das Idyll ist nun in die gute Stube verlegt – eine anheimelnde Melodie, gebettet in warme, behagliche Liegeklänge, dazu die gezupften Töne wie Regentropfen am Fenster.
Mit dem Finale geht es wieder hinaus, auf die Eisfläche eines langen Liegetons. Noch einmal erfindet Vivaldi die vielfältigsten Bewegungsmuster: Vorantasten, Rutschen, Fallen, flotte Fahrt. Am Ende stehen schroffe, scharfkantige Motive, niederstürzend zum ›g‹, dem tiefsten Ton der Geige. Das Eis bricht. Kann der Läufer sich retten? Das bleibt offen. Das letzte Wort hat der Sturm – in Vivaldis Quattro stagioni das Emblem der gefährlichen, dem Menschen letztlich überlegenen Natur. 300 Jahre nach seiner Veröffentlichung ist dieses Werk aktueller denn je.