Lebensdaten des Komponisten
7. Juli 1860 in Kalischt (Böhmen) – 18. Mai 1911 in Wien
Entstehungszeit
Erste Entwürfe 1907; Sommer 1908 – Sommer 1909
Uraufführung
20. November 1911 in München unter der Leitung von Bruno Walter
Das Werk beim BRSO
Erstaufführung: 4./5. November 1954 im Herkulessaal unter Eugen Jochum
Weitere Aufführungen unter Rafael Kubelík, Lorin Maazel, Daniel Harding und Eliahu Inbal
Zuletzt auf dem Programm: 25./26. Januar 2018 unter Sir Simon Rattle
Als der junge Gustav Mahler das diffizile Terrain der großen Symphonik betrat, benutzte er einen eher unscheinbaren Nebeneingang: Das Lied. Ging heut’ morgen übers Feld – wie das Signal zu diesem Aufbruch erklingt die Melodie von Mahlers gleichnamigem Lied als erstes Thema der Ersten Symphonie. Bis hin zur Vierten Symphonie reißt die enge Verbindung zwischen den so verschiedenen Gattungen nicht ab, dann führt ihn der Weg wieder zur rein instrumentalen Form der Symphonik. Aber das Lied hat inzwischen wie ein Ferment gewirkt, den einheitlich hohen kunstmusikalischen Ton der traditionellen Symphonie aufgebrochen, ihre Formen verwandelt und so zu einer modernen Konzeption des Symphonischen beigetragen. Ohne den Einfluss des Liedes wäre der typisch »mahlerische« Tonfall jedenfalls kaum denkbar. Daran ändert auch wenig, dass ausgerechnet die durchgängig gesungene Achte Symphonie kaum mehr liedhafte Bezüge aufweist.
Mit dem »Hauptwerk«, der Achten, erreichte Mahler – zumindest nach eigener Einschätzung – den Gipfelpunkt seines Schaffens. Umso tiefer stürzten ihn die Schicksalsschläge, die wie zum Hohn bald darauf, im Sommer 1907, auf ihn niederfuhren: Eine antisemitische Hetzkampagne zwang ihn zum Rücktritt als Hofoperndirektor in Wien, eine heimtückische Krankheit tötete seine ältere Tochter, und bei ihm selbst wurde eine Herzkrankheit diagnostiziert. Aber so schlimm ihn der Verlust der geliebten Tochter traf, nachhaltig erschüttert hat Mahler vor allem die Diagnose. Dabei war der angeborene Herzklappenfehler keineswegs lebensbedrohlich, und Mahler fürchtete auch nicht den Tod: »Daß ich sterben muß, habe ich schon vorher gewußt«, erklärte er Bruno Walter, »ich will Ihnen nur sagen, daß ich einfach mit einem Schlage alles an Klarheit und Beruhigung verloren habe, was ich mir je errungen; und daß ich vis-à-vis de rien stand und nun am Ende eines Lebens als Anfänger wieder gehen und stehen lernen muß.«
Die Ärzte hatten dem Schwimmsportler, Wanderer und Gipfelstürmer körperliche Anstrengung verboten. Und damit zerbrach auch die Basis seines geistigen Lebens. Denn die Energie für seine kreativen Höhenflüge lieferte ihm allein die Bewegung in der Natur. Mahler war es einfach gewohnt, »auf Bergen und in Wäldern herumzuschweifen und in einer Art keckem Raub meine Entwürfe davonzutragen. An den Schreibtisch trat ich nur wie ein Bauer in die Scheune.« Es wundert nicht, dass der Sommer 1907 erstmals keinen symphonischen Ertrag brachte. Völlig am Ende, zog sich das Ehepaar Mahler in den kleinen Ort Schluderbach in Südtirol zurück. Dort, »auf weiten einsamen Wegen« (Alma Mahler), entstanden die ersten Skizzen zum Lied von der Erde, das sich allerdings als geschlossenes Werk noch nicht abzeichnete.
Es würde zu kurz greifen, die einzigartige Gestimmtheit dieses Werkes einfach biographisch als Ausdruck von Trauer und Todesnähe zu deuten. Aber die existenzielle Krise gab sicher den Anstoß, letzte Dinge zu überdenken und den dunklen Grenzbereich zwischen Leben und Tod neu zu durchforschen. Dabei kam Mahler ein Gedichtband gerade recht, der im selben Jahr erschienen war: Die chinesische Flöte von Hans Bethge. Zum einen wird hier ein illusionsloser Blick auf das Leben geworfen, zum anderen steht der desolaten Lebensrealität die Schönheit der Natur gegenüber, ein Spannungsverhältnis, das Mahler schon immer beschäftigt hat. Dass die im Modetrend des Exotismus liegenden Übertragungen (oder vielmehr Nachdichtungen von Übersetzungen) alles andere als authentische altchinesische Lyrik sind, begünstigte die Vertonung noch: Ähnlich wie im Fall der vorgeblich volkstümlichen Wunderhorn-Gedichte objektiviert sie ihre Uneigentlichkeit zum lyrischen Rohstoff, der in Mahlers Aneignung subjektive Wahrhaftigkeit erhält. Als »das Persönlichste, was ich bis jetzt gemacht habe«, bezeichnete er Das Lied von der Erde, und dies erweist bereits sein Umgang mit dem Text: So fügte er zum Beispiel dem Abschied eigene Verse bei, die auf ein Gedicht von 1884 zurückgehen und zugleich auf seine jetzige Situation anspielen: »Die müden Menschen geh’n heimwärts, um im Schlaf vergess’nes Glück und Jugend neu zu lernen.«
Zwischen Lied und Symphonie
Im Sommerurlaub 1908, den er bei Toblach in Südtirol verbrachte, begann Mahler wieder systematisch zu komponieren. Noch immer beherrschte ihn jene Krise, und das Gefühl, »vor dem Nichts« zu stehen, schien ihn auch künstlerisch zurückzuwerfen. Der mit der Achten erreichte Gipfel war ohnehin ein Endpunkt, aber auf dem seit der Fünften Symphonie eingeschlagenen Weg ging es überhaupt nicht weiter. Musste er bei aller Meisterschaft auch auf seinem ureigenen Gebiet erst »wieder gehen lernen«? Möglicherweise setzte er instinktiv dort an, wo er einst begonnen hatte: beim Lied. Er nahm sich die im Vorjahr entstandenen Lied-Skizzen wieder vor, und tatsächlich führte ihn dies, wie Alma Mahler berichtet, unwillkürlich wieder zurück: »Er verband die einzelnen Texte, machte Zwischenspiele, und die erweiterten Formen zogen ihn immer mehr zu seiner Urform – zur Symphonie.« Angeblich nur aus Aberglauben (Beethoven und Bruckner starben nach bzw. über ihrer »Neunten«) soll er gezögert haben, das Werk auch so zu nennen. Immerhin erhielt Das Lied von der Erde den Untertitel »Eine Symphonie für eine Tenor- und eine Alt- (oder Bariton-) Stimme und Orchester«. Was aber legitimiert diese Bezeichnung und unterscheidet es von einem bloßen Liederzyklus?
Tatsächlich ist bei Mahler die Grenze zwischen den Gattungen ohnehin durchlässig. So mancher Symphoniesatz baut sich aus riesigen Strophen auf. Nun durchwirken symphonische Gestaltungsweisen die Lieder. Im Trinklied vom Jammer der Erde und erst recht im Abschied weiten sich die Zwischenspiele zu Durchführungen aus, in denen Wesentliches passiert. Überhaupt spielt sich das thematische Geschehen im Orchester ab, zu dessen Stimmengeflecht in gewissem Sinn auch die Solisten gehören. Aber auch Instrumente, etwa die Oboe, können als »Sänger« hervortreten. Die Satzfolge lehnt sich an der Symphonie an: In den gewichtigen Ecksätzen scheint deutlich die Sonatenhauptsatzform durch den Strophenbau, hier finden eindeutig symphonische Prozesse statt. Der Einsame im Herbst und Der Trunkene im Frühling, inhaltlich korrespondierend, vertreten den langsamen Satz bzw. ein sarkastisches Scherzo.
Dazwischen, mittig eingerahmt, zwei Genrebilder, die mit Visionen irdischen Glücks ein Kontrastfeld schaffen: Von der Jugend und Von der Schönheit. Ein stringenter Bogen spannt sich über das ganze Werk. Er gipfelt nach dem Prinzip der Steigerung in einem riesigen, so lange wie die vorangegangenen Sätze dauernden Schlusssatz. Mit dem Abschied knüpft Mahler also, ähnlich wie in der Dritten, an den Typus der »Finalsymphonie« an, und die Aufhellung des c-Moll zu C-Dur erinnert sogar an die üblichen Apotheosen. Aber das ist nur noch ein fernes, verwehtes Echo der Tradition. Der Weg führt keineswegs »per aspera ad astra«, sondern bleibt auf der Erde und mündet in Auflösung und Verstummen. Auch in dieser Symphonie wollte Mahler »mit allen Mitteln der vorhandenen Technik eine Welt aufbauen«, aber im Gegensatz zur Achten, in der das ganze Universum widerhallen sollte, ist es diesmal eine rein irdische Welt, in die sich der Mensch geworfen sieht.
Pentatonik, Drehfigur und Doppelschlag
Trotz aller Brüche und Kontraste, die diese Welt durchfurchen, ließ sie Mahler durchaus zu einem organischen Ganzen zusammenwachsen. Eine einfache fallende Folge von drei Tönen (zuerst ›a- g-e‹ in den Violinen) taucht in allen Sätzen auf und schafft Zusammenhang. Ganz deutlich entwickelt sich die Melodie der Oboe im zweiten Satz aus dieser Tonfolge. Man kann diese pentatonische Grundgestalt als chinesisches Exotikum hören, aber sie stammt aus einer tieferen Schicht: Derart elementare Motive versteht Mahler als Naturlaut, als noch nicht geformten klanglichen Urstoff. Fast noch auffälliger erscheinen überall in sich kreisende Motive. Die ansonsten höchst verschiedenen Themen aller Sätze beruhen auf Drehfiguren, zum Beispiel die grelle Anfangsfanfare, die kreisläufigen Violin-Skalen im zweiten, die dudelnde Chinoi-serie im dritten Satz. Als wichtigstes Motiv entpuppt sich schließlich der so genannte Doppelschlag, die einmal umkreiste Einzelnote. Ursprünglich eine emphatische Verzierung im Belcanto des 19. Jahrhundert, macht Mahler den Doppelschlag zum bedeutsamen Symbol, zu einer vielsagenden Vokabel seiner Tonsprache. Sie bringt zum Ausdruck, was nur noch gefährdet und gebrochen erscheinen kann: innigen Gesang an sich, subjektive Empfindung, Schönheit. Zuerst erklingt der Doppelschlag im zweiten Vers des Trinkliedes eher unauffällig, aber bezeichnend zum Wörtchen »sing’«. Das Singen steht der harschen Realität, die von der holzschnittartigen Harmonik gezeichnet wird, als scheinbares Glücksmoment gegenüber. Umso schlimmer, wenn am grausigen Höhepunkt des Satzes das »Heulen« des Affen die höhnische Parodie des menschlichen Gesanges liefert!
»Einfachste Wendungen, gesättigt mit Gehalt«
Vom Doppelschlag geradezu beherrscht ist das Finale. Hier steht er für Abgesang und Abschied (und so wird er auch in der Neunten Symphonie wiederkehren), erhält aber eine noch weit tiefgründigere Dimension. Denn die von der Oboe sforzato angestoßene Figur, der einsame Ruf einer Hirtenschalmei, klingt eher nach Naturlaut als menschlich artikulierte Empfindung. Der kreisende Doppelschlag fasst beide Sphären geheimnisvoll in eins. »Einfachste Wendungen«, meint Adorno, »sind im Lied von der Erde so gesättigt mit Gehalt, wie die alltäglichen Worte eines erfahren Alternden.« Der Abschied, dem die musikalische Symbolik unmissverständlich die Konnotation »Tod« zuweist, ist, wie erwähnt, ein symphonischer Prozess, aber auch einer der schmerzvollen Resignation. Worauf zielt er und mit ihm die ganze »Finalsymphonie«? Es bleibt in der Schwebe. Die Wiederholungen des Wortes »ewig« zerdehnen die Zeit und erreichen nicht den Grundton. Noch der letzte Akkord verweigert einen harmonisch ordentlichen Schluss und rundet doch schlüssig ab. Er trägt die Töne ›a-g-e‹ in sich, die schon zu Beginn des Werkes erklangen und nun (rückwärts!) in Flöten und Oboen vielsagend das »ewig« kommentieren. Der Kreis schließt und öffnet sich zugleich …
Diese Musik hebt jede zeitliche Logik auf: Aufhören und Fortdauer fallen zusammen, Werden und Vergehen sind nicht mehr zu trennen. »Was also dringt sich unwiderstehlicher auf, als der Gedanke, daß jenes Entstehen und Vergehen nicht das eigentliche Wesen der Dinge treffe, sondern dieses davon unberührt bleibe, also unvergänglich sei, daher denn Alles und Jedes, was daseyn will, wirklich fortwährend und ohne Ende da ist.« So erklärt Arthur Schopenhauer sein Konzept der Unsterblichkeit. Der Tod, so meint er, zerstört nur unsere Erscheinung und löst die Zeitbegriffe auf. Nicht aber unser Wesen, den ewigen Drang des Lebens zu sich selbst, den wir mit der Natur teilen. Das Sterben sei demgemäß nur ein »Zurückfallen in den Schoß der Natur«. Dass Mahler beim Komponieren wirklich an diese Philosophie dachte (die er sicher kannte), kann natürlich nicht behauptet werden. Aber die erstaunlichen Parallelen könnten zumindest erklären, warum dieser Schluss bei allem Abschiedsschmerz und Mangel an religiöser Überhöhung so transzendent erscheint und so tröstlich klingt.