Lebensdaten des Komponisten
16. Dezember 1770 in Bonn – 26. März 1827 in Wien
Entstehungszeit
1809 – Februar 1810 in Wien
Widmung
Erzherzog Rudolph von Österreich
Uraufführung
28. November 1811 im Leipziger Gewandhaus mit dem Pianisten Friedrich Schneider
Das Werk beim BRSO
Erstaufführung: 24./25. November 1955 im Herkulessaal mit Rosl Schmid unter Eugen Jochum
Weitere Aufführungen mit Hans Richter-Haaser, Robert Casadesus, Rudolf Serkin, Stephen Kovacevich, Bruno Leonardo Gelber, Alfred Brendel, Yefim Bronfman, Hélène Grimaud, Rudolf Buchbinder, Paul Lewis und Daniel Barenboim unter Rafael Kubelík, Sir Colin Davis, Lorin Maazel, Ingo Metzmacher, Christoph Eschenbach, Daniel Harding, Andris Nelsons, David Robertson und Mariss Jansons
Zuletzt auf dem Programm: 25./26. Oktober 2018 im Herkulessaal mit Igor Levit unter James Gaffigan
Schlendert man heute durch Deutsch-Wagram, die nordöstlich von Wien gelegene, knapp 10.000 Einwohner zählende Gemeinde, nimmt man einen hellen, freundlichen Ort wahr: Feuerwehr, Kirche, Sportplatz, keine Besonderheiten. Blenden wir in das Jahr 1809 zurück, als die Siedlung nur ein paar Dutzend Einwohner zählte: in jenen Juli, in dem die Häuser Wagrams erbebten. Nicht nur weil Kanonen donnerten, Mörser und Haubitzen krachten. Nicht nur weil massive Kavallerie den Boden zittern ließ. Sondern auch weil 180.000 französische und 120.000 österreichische Soldaten gegeneinander marschierten – unter dem Oberbefehl Napoleons beziehungsweise des Generalissimus Erzherzog Karl von Österreich. Letzterer war als Favorit in die Schlacht gezogen, hatte er dem französischen Kaiser doch erst kürzlich, bei Aspern, die erste militärische Niederlage überhaupt beschert. Karl sei, jubelte Heinrich von Kleist damals, der »Bezwinger des Unbezwingbaren«. Nun aber, bei dem blutigen, fast 80.000 Opfer fordernden Gefecht von Wagram, verlor der Habsburger auf ganzer Linie und zog sich ins Privatleben zurück, mit einer »Bescheidenheit«, so wiederum Kleist, »die dem Zeitalter, in dem wir leben, fremd ist«.
Ob der im nahen Wien weilende Beethoven etwas von dem martialischen Geschehen mitbekommen hat? Vielleicht ein Zittern in der Luft, ein leichtes Vibrieren des Erdbodens, ähnlich wie es Theodor W. Adorno von der Schlacht um Verdun schilderte, die er noch im fernen Frankfurt als sanftes, aber unheilvolles Grollen wahrnahm? Sicher ist, dass die Ereignisse von Wagram, ihre Vorgeschichte wie ihre Nachwehen, Beethovens Leben und Werk vehement beeinflussten. Immerhin war der Bruder des glücklosen Generalissimus sein geschätzter Kompositions- und Klavierschüler: Rudolph von Österreich, der spätere Erzbischof von Olmütz und Widmungsempfänger der Missa solemnis. Als Angehöriger der kaiserlichen Familie hatte er am 4. Mai 1809 Wien gen Ungarn verlassen, um der Schmach der Belagerung Wiens durch die Franzosen und der sich abzeichnenden Besetzung zu entgehen. Noch am selben Tag vollendete sein Lehrer den ersten Satz der Klaviersonate op. 81a, später Lebewohl, Abwesenheit und Wiedersehen überschrieben oder einfach Les Adieux genannt. Und als Rudolph Ende Januar 1810 glücklich nach Wien zurückkehrte, reagierte Beethoven mit der Vollendung der Sonate, mit der Freude über das Wiedersehen.
Allerdings war es ihm, wie den meisten Wienern auch, nicht beschieden, sich angesichts des nahenden Feindes abzusetzen. Dem Komponisten blieb nichts anderes übrig, als die Besetzung und deren Begleitumstände einfach hinzunehmen. Diese Leidensgeschichte des ohnehin chronisch Kranken, erläuterte der Pionier der Beethoven-Forschung Alexander Wheelock Thayer, begann am 11. Mai 1809. Die in Wien eingefallenen Franzosen hätten auf dem Spittelberg, einer innerstädtischen Anhöhe, eine Batterie von Kanonen so postiert, dass ihre Geschosse ohne Weiteres in der Wohnung des Komponisten hätten landen können: »Nachts mit dem Schlag 9 Uhr fing jene Batterie aus 20 Haubitzen zu spielen an. Reich und Arm, Hoch und Niedrig, Jung und Alt fanden sich nun im buntesten Gewirr in Kellern und feuerfesten Gewölben zusammen.« Zu den Schutzsuchenden gehörte auch Beethoven, wie sich sein Schüler und Biograph Ferdinand Ries erinnerte: Der Komponist habe »die meiste Zeit in einem Keller bei seinem Bruder Caspar« zugebracht, »wo er noch den Kopf mit Kissen bedeckte, um ja nicht die Kanonen zu hören« und sein »schwaches Gehörorgan vor dem heftigen Knalle der platzenden Bomben zu bewahren«.
Doch auch nachdem Wien besetzt und zumindest äußerlich Ruhe eingekehrt war, entspannte sich die Lage nicht. Die massenhaft einrückenden Franzosen ließen den Bedarf an Lebensmitteln sprunghaft ansteigen; gleichzeitig verringerte sich deren Zufuhr. Neben gigantischen Geldsummen requirierte Napoleons Armee 30.000 Zentner Heu, 40.000 Zentner Stroh, 40.000 Bettgerätschaften, 10.000 Eimer Wein – und nicht zuletzt von allen Mietern und Vermietern stattliche Sonderabgaben. »Wir haben in diesem Zeitraum ein recht zusammengedrängtes Elend erlebt, […] der ganze Hergang der Sachen hat bey mir auf Leib und Seele gewirkt«, schrieb Beethoven Ende Juli an Breitkopf & Härtel, seinen in Leipzig ansässigen Verlag. Doch damit nicht genug: Am 14. Oktober 1809 kam es zwar zum Frieden von Schönbrunn, der aber trug Österreich nicht nur herbe Gebietsverluste ein, sondern auch die Auflage, die Wiener Festungsanlagen zu schleifen, die sich im Kampf gegen die Osmanen so bewährt hatten. Schon am 16. des Monats erfolgten die ersten Sprengungen, Detonationen, die abermals einen Höllenlärm verursachten. »Ich schreibe Ihnen endlich einmal«, so Beethoven im November an Breitkopf & Härtel, »nach der wilden Zerstörung [jetzt] einige Ruhe, nach allem unerdenklichen Ungemach, […] was sagen Sie zu diesem Todten Frieden? – ich erwarte nicht Stetes mehr in diesem Zeitalter.«
Zorn und Verzweiflung
Vor dem geschilderten Hintergrund dürfte es der Komponist als schallende Ohrfeige empfunden haben, dass britische Musikverleger und -veranstalter sein Fünftes, im Sommer 1809 vollendetes Klavierkonzert als The Emperor Concerto verkauften. Ein absurdes Vorgehen, weil »Emperor« natürlich auf Napoleon zielte, den Kaiser von eigenen Gnaden, den Beethoven bekanntlich als Widmungsträger der Eroica getilgt hatte. Jetzt aber, nachdem der selbstherrliche »Empereur« die feindliche Hauptstadt wie eine Schlachtgans ausgenommen und folglich auch Beethoven wirtschaftliche Probleme bereitet hatte, steigerte sich dessen Napoleon-Verachtung noch. So kommentierte der Schriftsteller Karl August Varnhagen von Ense, der ihm 1811 mehrfach begegnet war, Beethoven sei ein »heftiger Franzosenhasser«. In dessen Zorn mischte sich freilich auch Verzweiflung, denn die Ereignisse hatten ihn wiederholt gezwungen, seine Arbeit zu unterbrechen. »Wenn ich Ihnen sage«, schrieb er im Juli 1809 an seinen Verleger, »daß ich seit dem 4ten May wenig Zusammenhängendes auf die Welt gebracht habe, beynahe nur hier und da ein Bruchstück […] welch zerstörendes, wüstes Leben, um mich her nichts als Trommeln, Kanonen, Menschenelend aller Art.«
Der Zusatz »Emperor« erscheint aber auch deshalb absurd, weil das Fünfte Klavierkonzert in engem Zusammenhang mit der programmatischen Les Adieux-Sonate steht, die man ohne Weiteres als Bekenntnis zu Österreich lesen kann. Beide Werke als verschwisterte zu betrachten, legen nicht nur ihre sich überlappenden Entstehungszeiten nahe, nicht nur der gemeinsame Widmungsträger Erzherzog Rudolph, sondern auch feinere Verbindungen. Zu ihnen zählen Beethovens Eintragungen in ein Skizzenbuch, das sogenannte »Landsberg 5«. Vermutlich in den ersten Monaten des Jahres 1809 angelegt, enthält es letzte Skizzen zu seinem Klavierkonzert op. 73 – neben ersten, wohl Ende April entstandenen Notizen zu Les Adieux. Diese räumliche Nachbarschaft hinterließ auch musikalische Spuren. So färbte das Finale des Konzerts mit seinem beschwingten 6/8-Takt deutlich auf den Schlussteil der Klaviersonate ab.
Symphonisches Miteinander
Den Kopfsatz von op. 73, Allegro überschrieben, auf seinen militärischen Charakter zu reduzieren, wie viele Kommentatoren früherer Generationen, hieße ein blühendes Gebilde gefrierzutrocknen. Gewiss, er steht wie die Eroica in der »heldischen« Tonart Es-Dur, doch darf dies nicht zu einer verengten Wahrnehmung führen, der jene »Etikettenschwindler« offensichtlich erlegen waren, die den Titel The Emperor Concerto kreierten. Auch darf man sagen, dass dem Hauptthema durchaus marschähnliche Züge eignen: Es erklingt erstmals nach der furiosen Klaviereinleitung in den Streichern. Aber letztendlich ist es nicht zum Marschieren geeignet, denn es wartet nicht mit kantigen Viertakteinheiten auf, sondern besteht aus zwei Zweitaktern, denen sich ein Dreitakter anschließt. Infolge dieser Asymmetrie verweigert es sich der militärischen Nutzung. Ungewöhnlich ist auch die Gesamtanlage des Kopfsatzes: einerseits weil die zehntaktige Klaviereinleitung vor der Reprise ein zweites Mal erklingt und sich derart von einer Art Präfix zu einem tragenden Baustein wandelt; andererseits weil Beethoven nach den beiden anschließenden Expositionen (deren erste er dem Tutti überantwortet, während die zweite dem Soloinstrument vorbehalten ist) das Hauptthema ein weiteres Mal im Tutti aufscheinen lässt – ehe das Klavier mit einem chromatischen Lauf und abschließenden Trillern zur Durchführung überleitet. Spätestens hier, in dem farbig orchestrierten, immer wieder von Momenten des Innehaltens geprägten Abschnitt, teilt sich die kompositorische Grundidee des Werkes mit, nämlich das konventionelle Concertare, den Wettstreit zwischen Soloinstrument und Orchester, zu überwinden und das symphonische Miteinander zu stärken.
Sehnsucht nach Ruhe und Frieden
In seiner Handschrift des zweiten Satzes (Adagio un poco moto) vermerkte Beethoven »Östreich löhne Napoleon«, Österreich solle sich beim französischen Kaiser revanchieren: angesichts der politischen Lage ein nachvollziehbarer Kommentar. Blickt man indes auf die Musik, scheint der Ruf nach Rache völlig unverständlich. Sie mutet, auch wegen ihrer insularen, dem Es-Dur der Rahmensätze enthobenen Tonart, einem gelegentlich ins gleichnamige Moll wechselnden H-Dur, so an, als habe ihr Schöpfer seiner Sehnsucht nach Ruhe und Frieden Ausdruck verleihen wollen, einem Verlangen, das sich etwa im hymnischen Beginn des Satzes offenbart oder auch im Gestus des Schreitens, der an den zweiten Satz von Beethovens 1812 vollendeter Symphonie Nr. 7 erinnert.
Positive Energie und Hochgefühl
Wie Sehnsucht und Melancholie in positive Energie umschlagen können, zeigt der Übergang vom zweiten Satz zum Finale. Am Ende des Adagios genügt dem Komponisten ein einziger Pinselstrich, um den Triumph vorzubereiten: die Umfärbung nur eines Tons, der Wechsel von H nach B. Gleich im Anschluss nimmt Beethoven das Es-Dur-Hauptthema des dritten Satzes vorweg, ja, er lässt es förmlich einschweben, im Pianissimo und mit Pedal, so als komme es aus einer anderen Welt. Und eben diese erreicht er, indem er das 4/4-Takt-Gebilde nun dem 6/8-Takt des Rondo-Finales anpasst. So verleiht er dem Thema eine tänzerische Spannkraft, die sich infolge der refrainartigen Wiederholungen noch steigert, um schließlich in das Hochgefühl eines kollektiven Schlussjubels zu münden. Ein Triumph? Gar ein solcher über Napoleon, der doch just in der Zeit, als das Klavierkonzert seiner Vollendung entgegensah, die Schlacht bei Aspern verlor? Hatte ihn Beethoven also auf seine Weise »gelöhnt«?