Die Musik, die ihr im heutigen Konzert hören könnt, stammt von Alexander Skrjabin (1872 – 1915) und Claude Debussy [sprich: Clohd Debüssie] (1862 – 1918). Beide lebten Ende des 19. Jahrhunderts, beide wuchsen in den bedeutendsten Großstädten ihrer Zeit auf, und beide lernten das Klavierspiel von ihren Tanten.
Alexander Skrjabin lebte in Moskau, der damals zweitgrößten Stadt Russlands. Weil seine Mutter, eine Pianistin, früh verstorben und sein Vater stets auf Reisen war, übernahm seine Tante die Erziehung und – eben den Klavierunterricht. Das Klavier wurde zu seinem Ein und Alles. In ihren Lebenserinnerungen schrieb seine Tante: »Jeden Sommer fuhren wir in die Sommerfrische und nahmen für ihn das Klavier mit, weil er ohne Instrument so bedrückt war. Ein Musikaliengeschäft führte den Transport aus. Trotzdem beunruhigte er sich sehr, die Arbeiter könnten das Klavier fallen lassen. Er flehte mich an, sie zu bitten, es möglichst vorsichtig zu tragen; er selbst aber eilte auf sein Zimmer, warf sich auf das Bett, steckte den Kopf unter das Kissen und beruhigte sich erst wieder, als er erfuhr, dass das Instrument heil und unversehrt auf seinem Platz stand. Dann lief er zu ihm hin, betrachtete und streichelte es wie einen Menschen.« Bald begann der kleine Skrjabin damit, Spielzeugklaviere zu basteln, die mit der Zeit immer ausgetüftelter wurden und sogar zum Klingen gebracht werden konnten.
Das Klavier war auch Debussys erster Kontakt zur Musik. Er stammte aus der französischen Hauptstadt Paris, doch als er acht Jahre alt war, mussten seine Eltern mit ihm und seinen Geschwistern vor dem Deutsch-Französischen Krieg nach Südfrankreich fliehen, wo die erwähnte Tante lebte und ihm sein erstes Klavierspiel beibrachte. Zurück in Paris ging Debussy nicht zur Schule, und so waren seine Klavierstunden der einzige Unterricht, den er erhielt. Während er deshalb zeitlebens nicht richtig schreiben konnte, schaffte er dank seiner Klavierlehrerin die Aufnahmeprüfung am Konservatorium (eine Art Musik-Uni).
Auch für Alexander Skrjabin war klar, dass er Musiker werden wollte, und, wie Debussy in Paris, belegte Skrjabin in Moskau die Fächer Klavier und Komposition. Obwohl sie in verschiedenen Städten und bei verschiedenen Professoren lernten (sie kannten sich ja noch nicht einmal), hassten sie beide ihre strengen und immer gleichen Kompositionsübungen, weshalb sie den Unterricht immer häufiger schwänzten. Wichtiger als ein strenges Muster, an das sie sich halten sollten, war ihnen der Klang ihrer Werke. Debussy interessierte sich für die Klänge ferner Länder und spielte sie gern am Klavier.
Als Pianist führte Skrjabin nach seinem Studium vor allem seine eigenen Stücke auf und reiste damit quer durch Europa. Das Poème de l’extase ist eines seiner wenigen Orchesterwerke. Noch bevor Skrjabin die Musik dazu komponierte (1905 – 1907), hatte er ein Gedicht (»poème«) mit demselben Titel verfasst. Musik und Gedicht beschreiben aus unterschiedlichen Blickwinkeln einen Menschen, der gegen sich selbst kämpfen muss, damit er am Ende – wie durch eine Spirale immer höher gewirbelt – in einen grenzenlosen Rausch der Verzückung (»extase«) verfallen kann.
Für Debussy hingegen beginnt die Musik erst da, wo mit Worten nichts mehr ausgedrückt werden kann. Er bezeichnet La mer (»Das Meer«) als drei symphonische Skizzen. Die drei Sätze nennt er zwar Vom Morgengrauen bis zum Mittag auf dem Meer, Spiel der Wellen und Zwiegespräch von Wind und Meer, doch statt diese Szenen einfach in Musik zu set- zen und zu beschreiben, sollten sie dem Hörer vielmehr eine Idee vom Wesen des Meeres ge- ben. Ebenso wie das Wasser selbst, das ständig in Bewegung und nie zu fassen ist, schwimmt seine Musik. Einzelne Motive tauchen kurz auf, werden von anderen umspült und gehen wieder unter. Und so wie das Meer immer dasselbe bleibt, bestimmt auch das Eingangsthema alle drei Sätze, so unterschiedlich sie auch klingen.
Sowohl La mer als auch Le poème de l’extase waren zu ihrer Entstehungszeit so neu und selbst für Musiker ungewohnt, dass die alten Dirigenten damit nichts anzufangen wussten und ersetzt werden mussten. So fand die Uraufführung des Poème de l’extase 1908 statt im russischen St. Petersburg in New York statt, und nach der schlechten Uraufführung von La mer 1905 in Paris griff Debussy 1908 selbst zum Taktstock.