Lebensdaten des Komponisten
7. Mai 1833 in Hamburg – 3. April 1897 in Wien
Entstehungszeit
1855 – 1858 (Vorstudien bereits seit 1854)
Uraufführung
22. Januar 1859 im Königlichen Hoftheater in Hannover mit Johannes Brahms (Klavier) und der Hofkapelle unter der Leitung von Joseph Joachim
Das Werk beim BRSO
Erstaufführung: 28./29. Januar 1954 im Herkulessaal mit Wilhelm Kempff unter Eugen Jochum
Weitere Aufführungen mit Claudio Arrau, Christoph Eschenbach, Daniel Barenboim, Alfred Brendel, Yefim Bronfman, Radu Lupu, Hélène Grimaud und Krystian Zimerman
Zuletzt auf dem Programm: 16./17./18. Dezember 2021 in der Isarphilharmonie mit Igor Levit unter Manfred Honeck
Neben der Ersten Symphonie hat kaum ein anderes Werk Brahms so viel Mühe, Engagement, Energie und Stehvermögen abgefordert wie das d-Moll-Klavierkonzert: Es ist ein Werk hochfahrender Ambition und quälerischer Selbstkritik – ein Dokument künstlerischer und menschlicher Krisen. 1853 hatte Brahms in Köln zum ersten Mal Beethovens Neunte Symphonie gehört. Wenige Monate später war Robert Schumann, der selbstlose Freund und Förderer, nach einem in geistiger Verwirrung unternommenen Selbstmordversuch in die Nervenheilanstalt Endenich bei Bonn eingeliefert worden. Unter dem Eindruck dieser beiden erschütternden Erlebnisse begann Brahms im Frühjahr 1854 die Komposition einer Sonate für zwei Klaviere, die er sogleich mit Clara Schumann durchprobierte. »Kaum entzückte er uns durch sein Trio [op. 8], so hat er schon wieder drei Sätze einer Sonate für zwei Flügel fertig, die mir noch himmelhöher vorkommen«, berichtete der Dirigent Julius Otto Grimm dem gemeinsamen Freund Joseph Joachim am 9. April 1854. Die Sonate als Ganzes blieb unfertig liegen, doch einer der drei Sätze, ein »langsames Scherzo in Sarabandenform« (auch Marche macabre contre les Philistins genannt), wurde später abgetrennt und ging als Trauermarsch in den zweiten Satz des Deutschen Requiems ein.
Für die Breite und Kühnheit der Konzeption, die Brahms vorschwebte, erschien ihm der reine Klavierklang indes bald zu farblos, zu neutral. »Meine d-Moll-Sonate«, notierte er in einem Brief an Joachim, »möchte ich gern lange liegen lassen können. Ich habe die drei ersten Sätze oft mit Frau Schumann gespielt […]. Eigentlich genügen mir nicht einmal zwei Klaviere.« Er plante zunächst, die Sonate zur Symphonie umzuarbeiten, orchestrierte mit Hilfe Grimms im Sommer 1854 den Kopfsatz und schickte ihn an Joachim, mit der Bitte um Rat und Kritik. Doch auch diese symphonische Gestalt fand Brahms wenig befriedigend. Die Idee einer abermaligen Neufassung tauchte erstmals in einem Brief an Clara Schumann auf: »Denken Sie«, schrieb er der Freundin am 7. Februar 1855, »was ich die Nacht träumte: Ich hätte meine verunglückte Sinfonie zu einem Klavierkonzert benutzt und spielte dieses. Vom ersten Satz und Scherzo und einem Finale furchtbar schwer und groß. Ich war ganz begeistert.«
Die Umarbeitung zum Klavierkonzert zog sich jedoch noch über annähernd drei Jahre hin. Brahms feilte unablässig an der Komposition, namentlich am Kopfsatz, über den Clara am 1. Oktober 1856 in ihrem Tagebuch notierte: »Johannes hat einen prächtigen ersten Concertsatz componirt, der mich ganz entzückt durch seine Großartigkeit und Innigkeit der Melodien.« Das an zweiter Stelle vorgesehene Scherzo wurde eliminiert und stattdessen ein neues Adagio entworfen, das Brahms Clara gegenüber als »ein sanftes Porträt von Dir« bezeichnete. Mitte Dezember 1856 war der Schlusssatz in der revidierten Fassung, Anfang Januar 1857 auch das Adagio vorläufig abgeschlossen, und beide Sätze gingen wiederum an Joachim zur Begutachtung. Noch über ein Jahr aber wanderte die Partitur zwischen Brahms und seinem geduldigen Mentor hin und her; fast jede Passage wurde mehrfach diskutiert, verworfen, neu geschrieben oder umgeändert, vor allem was Details der Orchestrierung betraf.
Anfang 1858 war das d-Moll-Konzert so weit fertiggestellt, dass Joachim mit seiner Hannoveraner Hofkapelle am 30. März eine Probeaufführung aus dem Manuskript ansetzen konnte. Ein knappes Jahr später, am 22. Januar 1859, fand dann unter seiner Leitung die offizielle Uraufführung mit Brahms am Flügel im Königlichen Hoftheater zu Hannover statt, worüber Joachim sofort Clara Schumann brieflich unterrichtete: »Wir haben gestern Abend also Johannes‹ Concert vor einem hohen Hannoverschen Adel und sonstigem Publicum, ja selbst vor sämmtlichen allerhöchsten Herrschaften gespielt. Und es ging sehr gut! Es wurde das Concert sogar durch Hervorruf des Spielers und Componisten geehrt, dessen Bücklinge so aussahen, als wollte er nach Untertauchen im Wasser die Feuchtigkeit aus den Haaren schütteln. Er hat sich aber sonst sehr gut aufgeführt, namentlich sehr erträglich und im Tacte gespielt, und ist wirklich ein ganzer Kerl.«
Fünf Tage darauf folgte im Leipziger Gewandhaus allerdings ein glatter Durchfall, obwohl Brahms nach eigenem Bekenntnis »bedeutend besser als in Hannover« spielte: »Ohne irgendeine Regung«, schrieb er am 28. Januar 1859 an Joachim, »wurde der erste Satz und der 2te angehört. Zum Schluß versuchten drei Hände langsam ineinander zu fallen, worauf aber von allen Seiten ein ganz klares Zischen solche Demonstrationen verbot […]. Trotz alledem wird das Konzert noch einmal gefallen, wenn ich seinen Körperbau gebessert habe, und ein zweites soll schon anders lauten.« Die meisten Kritiken fielen vernichtend aus: Man sprach von »matt und siechhaft« dahinschleichenden oder »in fieberkranker Aufgeregtheit« sich aufbäumenden Gedanken, von »ungegohrner Masse« und »mißlautendsten Klängen«, man vermisste Feinheit und Gefälligkeit in den Passagen, vor allem aber eine »effektvolle Behandlung« des Soloparts (Signale für die musikalische Welt, Leipzig 3. Februar 1859).
Nur wenige Rezensenten – so im Leipziger Tageblatt und in der Neuen Zeitschrift für Musik – zogen eine positivere Bilanz. Von diesem Leipziger Fiasko fühlte sich Brahms indes kaum betroffen, denn er war selbst, wie schon im Brief an Joachim angedeutet, keineswegs zufrieden mit der Partitur und machte sich bald daran, ihren »Körperbau« zu verbessern, womit vor allem Retuschen am Kopfsatz gemeint waren. Es dauerte nochmals zwei Jahre, bis der Erstdruck des d-Moll-Konzerts dann im Frühjahr 1861 bei Rieter-Biedermann in Leipzig erscheinen konnte.
Kanten und Brüche
Die Erschütterungen, die Skrupel und Komplikationen bei der Ausarbeitung haben sich dem Werk deutlich eingeprägt; sie sind als Kanten und Brüche noch in der definitiven Gestalt manifest: so etwa gleich im Hauptthema des ersten Satzes (Maestoso), das in der Tonart wie in der Gezacktheit des Profils unschwer Beethovens Neunte als Modell erkennen lässt, das aber geradezu schüchtern und stumpf orchestriert erscheint. Die Probleme waren jedoch nicht nur instrumentationstechnischer, sondern mehr noch formaler Natur. Das durchgängig affektgeladene musikalische Material stößt sich immer wieder am starren Rahmen der klassischen Konstruktionsschemata, drängt vor allem aber über das konzertante Ritual hinaus.
Der Klaviersatz dieses d-Moll-Konzerts wirkt, bei aller immensen Schwierigkeit, oft geradezu antivirtuos: Das ist keine leichtfüßige, spielerisch-elegante, sondern eher eine unwirsch-vehemente Brillanz, von jener massiven Knorrigkeit, die für Brahms‹s Komponieren auch weiterhin charakteristisch bleiben sollte. Andere Einwände waren konventionellerer Art – man hat dem Werk Mangel an Entspannung und Gelassenheit, an Charme und Grazie angekreidet. Doch gerade aus solch hektischer Hochspannung, die sich durch die Kontraste von pathosgetränktem Kopfsatz, sanftem Adagio und robustem Finale ungebrochen erhält, bezieht Brahms‹ d-Moll-Konzert seinen unverwechselbaren Charakter – den Ausdruck authentischer Subjektivität.
Ein Kopfsatz »titanischer Ausmaße«
Was den besonderen Reiz dieses Jugendwerks ausmacht, ist die Verschränkung von traditionellem Format und eigenwilliger Formkonzeption, von konzertantem Prinzip und symphonischer Anlage. Wie innovativ Brahms die überlieferten Schemata interpretiert hat, lässt sich exemplarisch zumal am Eröffnungssatz studieren, der mit über 20 Minuten Dauer und einer allein 90 Takte umfassenden Orchesterexposition wahrhaft »titanische Ausmaße« annimmt. Originell mutet nicht nur die Aufweichung der starren tonalen Raster in der harmonischen Beziehung von Themen und Satzgliedern an: So wird etwa d-Moll als Grundtonart zunächst nicht regelrecht ausgeprägt, vielmehr nur vage umschrieben oder auch, wie beim Einsatz der Reprise, absichtsvoll verschleiert. Neuartig wirkt auch die Technik der »Gruppierung melodischer Gedanken um thematische Schwerpunkte« (Carl Dahlhaus), womit Brahms den üblichen Sonatensatz-Dualismus elegant unterminiert, ohne sein Gerüst anzutasten. Solo-Episoden werden quasi improvisatorisch ausgesponnen, Orchesterritornelle expandieren ins Symphonische, und so gewinnt dieses Maestoso eine epische Breite, die Brahms durch strenge Konstruktionsverfahren einzudämmen versucht.
Thematische Verarbeitung, Variation und kontrapunktische Verknüpfung von Motiven sind schon in der Exposition (wie auch in der stark verkürzten Reprise) reich und komplex ausgebildet. Dagegen konzentriert sich Brahms in der äußerst knapp gehaltenen Durchführung ausschließlich auf das Hauptthema, das hier gewissermaßen das Schwergewicht der kompositorischen Entwicklung trägt und schließlich in der Coda, im rauschhaft-apotheotischen Miteinander von Solist und Orchester, nochmals als »heroische Gestalt« bestätigt wird.
Sakrale Stimmung und dramatische Akzente
Elegisch-hymnische Züge trägt der langsame Mittelsatz, der im Manuskript noch mit »Benedictus qui venit in nomine Domini« überschrieben ist, was zu allerlei kryptischen Deutungsversuchen animiert hat. Innigkeit des Tons und quasi sakrale Stimmung werden indes aufgebrochen durch energischer figurierte Klavierpassagen und einen dramatisch akzentuierten Mittelteil in Moll, der Assoziationen an ein anderes berühmtes d-Moll-Modell der Musikgeschichte weckt – Mozarts Klavierkonzert KV 466. Das abschließende Allegro non troppo, formal changierend zwischen Rondo und Sonatensatz, knüpft mit dem Rekurs auf symphonische Gestik und kontrapunktische Motivverarbeitung unmissverständlich an den Kopfsatz an. Mit einer »quasi Fantasia«-Kadenz samt schwungvoller Coda in D-Dur lässt Brahms dann sein »Jugendkonzert« durchaus regelhaft ausklingen.