Lebensdaten des Komponisten
13. September 1874 in Wien – 13. Juli 1951 in Los Angeles
Entstehungszeit
1906, Arrangement 1923
Uraufführung
8. Februar 1907 im Großen Musikvereinssaal, Wien, durch die Bläservereinigung des Wiener Hofopernorchesters und das erweiterte Rosé-Quartett; Premiere von Weberns Bearbeitung am 29. April 1925 in Barcelona unter Schönbergs Leitung
Schönbergs Erste Kammersymphonie op. 9 gilt mit ihrer an die entferntesten Grenzen der Tonalität reichenden Harmonik, den großen kontrapunktischen Verwicklungen und einem hochoriginellen Formaufbau als Meilenstein der »neuen« Musik: Alban Berg war von ihren »immer wieder neu auftauchenden Schönheiten« begeistert, und Schönberg selbst betrachtete sie als Höhepunkt seiner ersten Schaffensperiode. Zu einer Zeit, in der Gustav Mahler gerade an seiner gewaltigen Achten Symphonie arbeitete, legte Schönberg mit seiner Kammersymphonie ein hoch konzentriertes und klanglich zurückgenommenes Werk von nur rund 20 Minuten Aufführungsdauer vor, in dem das musikalische Geschehen mit geringem orchestralen Aufwand wie in einem Brennglas gebündelt wird – ganz nach seinem späteren Postulat, dass »im kleinsten Raum der größte und reichste Inhalt untergebracht« werden könne.
Für die Musik hatte das natürlich auch formale Konsequenzen, weshalb das Stück aus einem einzigen großen Satz besteht, in den Rudimente gängiger symphonischer Gestaltung (Sonaten-Allegro, Scherzo, Adagio und Finale) eingearbeitet sind. Zudem sind die Themen mit ihren zahllosen motivischen Verästelungen – Berg zählte nicht weniger als 19 musikalische Hauptgestalten – in kompakter Textur ineinander verschachtelt, was zu einem hoch expressiven Stimmgewebe führt. Aus ihm taucht immer wieder mit dem fanfarenartigen Quarten-Motto des Beginns das wohl berühmteste Thema der Zweiten Wiener Schule auf: als zentrales Moment des gesamten melodischen und harmonischen Geschehens.
Nachdem Schönberg am 25. Juli 1906 während eines Sommeraufenthalts in Rottach-Egern am Tegernsee das Stück beendet hatte, schickte er die Partitur an Ferdinand Löwe, den Leiter des Wiener Conzertvereins, der sich jedoch nicht zu einer Aufführung durchringen konnte: Die Musik sei ihm »nach aufmerksamer Lektüre der Partitur bis jetzt unverständlich geblieben«, was Schönberg allerdings nicht als »Urteil«, sondern bloß als »Geständnis« verstehen solle. Nachdem auch Richard Strauss dankend abgelehnt hatte, konnte Gustav Mahler seinen Schwager Arnold Rosé mit seinem renommierten Streichquartett sowie eine Bläservereinigung des Wiener Hofoperntheaters für die Premiere gewinnen – exzellente Musiker der ersten Garde, was für Schönberg einen großen Erfolg darstellte.
Die Wiener Premiere am 8. Februar 1907 führte aufgrund der ungewohnten Schwierigkeiten des experimentell besetzten Werks dennoch zu erbitterten Protesten, da Zuhörer »laut mit den Stühlen zu rücken und ostentativ den Saal zu verlassen« begannen (Alma Mahler). Im Illustrierten Wiener Extra-Blatt war am folgenden Tag über das Geschehene in präfaschistischer Tonlage zu lesen: »Viele stahlen sich vor Schluß dieses Stückes lachend aus dem Bund, Viele zischten und pfiffen, Viele applaudirten. Schließlich kam Herr Schönberg selber und schüttelte den fünfzehn Mitwirkenden gerührt die Hand. […] In einer Loge stand bleich und mit verkniffenen Lippen der Herr Hofoperndirector Gustav Mahler, der das hohe Protectorat über alle entartete Musik schon seit längerer Zeit führt. […] Herr Schönberg […] macht wilde, ungepflegte Demokratengeräusche, die kein vornehmer Mensch mit Musik verwechseln kann. […] Aber der Spuk wird vorübergehen […]. Er hat keine Zukunft, er kennt keine Vergangenheit, er erfreut sich nur einer sehr äußerlichen und armseligen Gegenwart«.
Wenige Tage nach dem Premierenskandal begann Schönberg, seine Kammersymphonie für Klavierquintett zu bearbeiten, wobei er die Partitur bald wieder beiseitelegte. Jahre später fertigte er eine orchestral erweiterte Version für Streichorchester und zehn solistische Blasinstrumente an, deren Premiere am 31. März 1913 im Wiener Musikverein in einer Saalschlacht samt juristischem Nachspiel endete: »Nach dem Opus 9 von Schönberg […] mischten sich leider in das wütende Zischen und Klatschen auch die schrillen Töne von Hausschlüsseln und Pfeifchen und auf der zweiten Galerie kam es zur ersten Prügelei des Abends. […] Der einschreitende Polizeikommissär konnte in diesem Chaos wild aufgepeitschter Leidenschaften nichts ausrichten« (so Robert Konta im damals renommierten Wiener Fremden-Blatt vom 1. April 1913).
Schönberg ließ sich nicht entmutigen und nahm weitere Retuschen vor, die, wie es in einem Brief vom 31. Januar 1914 an Arthur Nikisch heißt, »wesentlich zur Verbesserung des Klanges und zur Erzielung von Klarheit beitragen« sollten. Zudem bat er 1922 Anton Webern, das Stück für eine Aufführung im Verein für musikalische Privataufführungen für »höchstens fünf Solisten« zu bearbeiten – und zwar in der Besetzung von Schönbergs Erfolgsstück Pierrot Lunaire. Diese Version erklang aufgrund der finanziell bedingten Auflösung des Vereines erst am 29. April 1925 in Barcelona in einem vom Schönberg-Schüler Roberto Gerhard organisierten Konzert, das vom Komponisten dirigiert wurde. Auch danach sollte es noch viele Jahre dauern, bis es Schönberg gelang, »die Aufführungsschwierigkeiten […] auf einen Bruchteil [zu] reduzieren, so daß […] die Kammersymphonie endlich ihren Platz im Konzertleben« einnehmen konnte: Am 27. Dezember 1936, mehr als 30 Jahre nach Abschluss der Komposition, fand in Kalifornien die Premiere der definitiven und als op. 9b veröffentlichten Fassung für Orchester statt.