Lebensdaten des Komponisten
4. September 1824 in Ansfelden, Oberösterreich – 11. Oktober 1896 in Wien
Entstehungszeit
1872/1873 (erste Fassung); 1874, 1876–1878 (zweite Fassung); 1887– 1889 (dritte Fassung)
Widmung
»Symfonie in D Moll Sr Hochwohlgeboren Herrn Herrn Richard Wagner, dem unerreichbaren, weltberühmten und erhabenen Meister der Dicht- und Tonkunst in tiefster Ehrfurcht gewidmet von Anton Bruckner.«
Uraufführung
16. Dezember 1877 in Wien unter der Leitung des Komponisten (zweite Fassung)
21. Dezember 1890 in Wien unter der Leitung von Hans Richter (dritte Fassung)
Das Werk beim BRSO
Erstaufführung: 12./13. Mai 1955 im Herkulessaal unter Eugen Jochum
Weitere Aufführungen unter Rafael Kubelík, Klaus Tennstedt, Kurt Sanderling, Lorin Maazel und Mariss Jansons
Zuletzt auf dem Programm: 7./8./9. Februar 2013 im Gasteig unter Herbert Blomstedt
Auf die Frage, wie viele Symphonien Anton Bruckner komponiert hat, gibt es keine quiztaugliche Antwort. Neun? Aber da er die letzte nicht mehr vollenden konnte, wären es nur fast neun. Rechnete man noch die sogenannte »Studiensymphonie« und die ominöse »Nullte« hinzu, kämen bereits elf zusammen. Doch hat Bruckner die meisten seiner Symphonien mehrmals geschrieben, in stark voneinander abweichenden Ur-, Original- und Letztfassungen, weshalb die Gesamtzahl am Ende eher bei 20 liegt. Ganz zu schweigen von den maliziösen Kommentaren, die behaupten, Bruckner habe nur eine einzige Symphonie geschrieben, die allerdings neun Mal. Üble Nachrede, die sich leicht entkräften lässt. Könnte es nicht sein, dass gerade dieser spätberufene Symphoniker, der zunächst als Domorganist und Chormeister in Linz kaum mehr als eine Lokalgröße war, dass der 1824 geborene Anton Bruckner mit seinen Symphonien ein offenes, überaus modernes Projekt in Angriff nahm, ein »work in progress«? Eine Abkehr vom klassischen Werkbegriff, die nichts mit dem Unvermögen zu tun hatte, dass er es nicht besser gekonnt oder gewusst hätte, sondern im Gegenteil mit der Sprengkraft seiner maßlosen musikalischen Fantasie?
Die Urfassung der Dritten Symphonie, die Bruckner in der Silvesternacht 1873 abschloss, entfesselt eine ungehemmt wuchernde, wild verschlungene, logisch kaum zu erklärende Musik. Allein die Ausmaße dieser mit über 2.000 Takten längsten Bruckner-Symphonie (in der Erstfassung!), die hypertrophen, verdoppelten und verdreifachten Formen, die abrupten Richtungswechsel, klaffenden Lücken, die gegen jede Konvention gesetzte Instrumentierung potenzieren sich zu einer Originalität, einer Exzentrik, für die es im Jahr 1874 schlichtweg keinen Maßstab geben konnte. Die Wiener Philharmoniker wiesen das unbegreifliche Stück damals bei einer Novitätenprobe weit von sich, und sie lehnten es 1875 noch einmal und 1877 zum dritten Mal ab. Zwischendurch hatte Bruckner wegen der Überlänge eine auf zwei Abende verteilte Aufführung ins Gespräch gebracht. Und so kam er unausweichlich zu dem Schluss, dass er seine ausufernde Symphonie zurechtstutzen, kürzen, straffen und normalisieren musste.
Diese zweite Fassung der d-Moll-Symphonie sollte am 16. Dezember 1877 vom Wiener Hofkapellmeister Johann Herbeck in einem Gesellschaftskonzert der »Musikfreunde« uraufgeführt werden. Doch starb er wenige Wochen vor der Premiere, woraufhin Bruckner zu seinem Unglück selbst die Leitung übernahm. »Es ist dies ein ganz ungeheuerliches Werk«, empörte sich der Kritiker der Wiener Zeitung. »Herr Bruckner mordet Vater und Mutter mit der Ueberzeugung, das müsse so sein. Was er an Generalpausen leistet, streift ans Mährchen. Man kommt bei dieser Musik aus dem Kopfschütteln nicht heraus.« Ein anderer Rezensent beklagte die »planlose Aneinanderflickung von Fetzen musikalischer Ideen«; der nächste empfahl eine »gründliche Überarbeitung«. Obgleich zwei Jahre später ein Erstdruck der Symphonie erschien und die Dritte in Konzerten von Frankfurt bis Amsterdam und sogar in New York gegeben wurde, setzte sich Bruckner Ende der 1880er Jahre unter Mitwirkung und Zuspruch seiner wohlmeinenden Schüler abermals an die bereits stark reduzierte und revidierte Partitur. Und es war eben diese späte Fassung und keine andere, die ihm »ins Herz gewachsen« sei, wie er bekannte; von der »alten Bearbeitung« wollte er gar nichts mehr wissen. Bruckners d-Moll-Symphonie wurde 1890 ein weiteres Mal gedruckt und am 21. Dezember zum zweiten Mal uraufgeführt: von den Wiener Philharmonikern in einem Akt tätiger Reue.
Bruckners Modernität
Was ist so »ungeheuerlich« an diesem Werk? Oder eher noch gefragt: Woraus besteht dieses Werk? Nur aus der letztgültigen Version von 1889, wie sie auch heute Abend gespielt wird, oder aus dem ganzen langjährigen, offenen, aber mitnichten planlosen Kompositionsprozess? Die frappierende Modernität dieses vermeintlich anachronistischen und »mittelalterlichen« Meisters zeigt sich gerade in den Rissen, Abbrüchen und Leerstellen seiner Musik, in den überlagerten Zeitschichten, kollidierenden Ausdruckssphären und harten Schnitten. Diese Symphonie wuchert auch im Innersten, bis in die scheinbar nebensächlichen Details, als wären hier von Anfang an schon verschiedene Fassungen auskomponiert.
Die dritte Dritte von 1889 beginnt mit einem Thema, das in zwei Varianten, in zwei Geschwindigkeiten vorgestellt wird: wie ein Landregen in den Streichern und als somnambule Fanfare in der Solotrompete. Danach teilt sich das Thema auf, wird von den hohen Bläsern und dem Horn fortgesponnen, der vielstimmige Vortrag nimmt an Fahrt auf, geht in ein weitgezogenes Crescendo über – und kulminiert in einer erneuten und wieder anderen Darstellung des Themas, laut und deutlich und zugleich weitschweifig und vieldeutig. Und auch das Gesangsthema gibt es mehrfach und simultan in allen möglichen melodischen Verschlingungen.
Simultaneität disparater Elemente
Auf die Spitze aber treibt Bruckner diese Spiegelungen und Doppelungen im Finale, wiederum in der »Gesangsperiode«, wenn er die Streicher eine Polka musizieren lässt und die Bläser dazu, völlig unpassend, einen Choral intonieren. Eine solche Simultaneität disparater Elemente wird normalerweise mit der musikalischen Avantgarde des 20. Jahrhunderts assoziiert, etwa mit dem Amerikaner Charles Ives. Allerdings hatte auch schon der französische Romantiker Hector Berlioz mit ähnlichen quasi-szenischen Effekten experimentiert. Zu Bruckners geistlich-weltlicher Melange existiert eine anekdotische Überlieferung: »So ist‹s im Leben«, soll der Komponist ausgerufen haben, »und das habe ich im letzten Satze meiner dritten Symphonie schildern wollen: die Polka bedeutet den Humor und Frohsinn in der Welt – der Choral das Traurige, Schmerzliche in ihr.«
Dieser doppelsinnige Seitensatz nimmt viel Raum und Strecke in Anspruch, beinahe als ein ausgelagertes Zwischenspiel, wie diese Symphonie ohnehin immer wieder an eine Bühnen- oder Verwandlungsmusik mit wechselnden Auftritten erinnert, namentlich im langsamen zweiten Satz, der vom Adagio über das Andante in ein merkwürdig isoliertes Zentrum führt (und wieder zurück): in die mit Misterioso überschriebene Mitte, die von einer entrückten, historisierend verfremdeten Sarabande besetzt wird, vielleicht ein Geistertanz? Jedenfalls eine zitathafte Musik, beinahe ein Fremdkörper. Auch der Ländler scheint als fetzige folkloristische Figur im Scherzo wie einmontiert in die überdrehte Bewegungsstudie mit ihren rotierenden, kreiselnden, wirbelnden Endlosschleifen und stampfenden Schrittfolgen: eher eine Anatomie als eine Apotheose des Tanzes, mit einem starken Zug ins Manische, wenn nicht gar ins Maschinelle.
Bruckners Dritte und Beethovens Neunte
Man kann sich den ganz eigenen, eingerückten und aufgebrochenen Formen dieser Symphonie nur mit unzulänglichen Vergleichen nähern: zur Schauspielmusik, zur Suite, zur Studie. Und zum Palimpsest, einer Schrift, unter der noch eine ältere Schicht durchscheint. In Bruckners Fall ist dies Beethovens Neunte, ebenfalls in d-Moll, die er als »Incarnation alles Großen und Erhabenen in der Tonkunst« bewunderte. Dem Anfang seiner Dritten liegt sie zugrunde: Die leere Quinte, die elementaren Motive, das expansiv bis zum Unisono und Fortissimo gesteigerte Thema finden sich bei Beethoven wie bei Bruckner. Auch die Coda des Kopfsatzes lässt, mit dem chromatischen und ostinaten Bass als treibender Kraft, unter der Dritten die Neunte erkennen. Im Wechsel zwischen Adagio und Andante, der Idee der Doppelvariationen, zeichnete Bruckner nochmals im langsamen Satz die Umrisse der Neunten nach, löste sich aber im Laufe der Jahre (und Fassungen) von diesem Untergrund. Ins Finale schaltete er ursprünglich (wie Beethoven) Rückblenden in die vorangegangenen Sätze ein, doch strich er diese Einlage später wieder.
Ebenfalls gestrichen wurden die Wagner-Zitate, die Bruckner seiner Partitur eingesetzt hatte. Mit diesen Zutaten hat es seine eigene Bewandtnis. Bruckner nannte die Dritte eine »Wagner-Symphonie«: zunächst einmal aus dem einfachen Grund, dass er dieses Werk Richard Wagner gewidmet hatte, dem »Meister aller Meister«, den er geradezu anbetete, dem er aber als Komponist keineswegs blindlings nachfolgte. Es geht ein Rätselraten durch die Bruckner-Literatur, ob er die Zitate (aus der Walküre, dem Tristan und anderen Opern) nachträglich eingefügt habe und warum er diese Hommage später wieder tilgte. Womöglich aber ist es mit den Zitaten wie mit der Schönheit, dass sie im Auge des Betrachters liegen?
Die Hereinnahme und Entfernung dieser Textbausteine belegen noch einmal den modernen und offenen Werkcharakter der Komposition. Nur am Schluss gab sich Bruckner ausgesprochen dogmatisch, indem er die Trompetenfanfare der ersten Takte zuletzt wie einen Deus ex machina wiederkehren und die Symphonie triumphal bekrönen und besiegeln lässt. Was wollte er damit beweisen? Die Majestät Gottes? »Ich bin das A und das O, der Anfang und das Ende«, wie es in der biblischen Offenbarung heißt? Das wäre für einen strenggläubigen Katholiken eine naheliegende Schlussfolgerung. Oder seine eigene künstlerische Souveränität, eine Partitur zu beenden, wie sie begann? Dass ein Werk mit prinzipiell offenem Ausgang derart plakativ schließt, bleibt ein Widerspruch, der sich nicht auflösen lässt und auch gar nicht aufgelöst werden muss. Warum sollte eine Symphonie, die so viele Fragen aufwirft, nicht mit einem großen Ausrufezeichen enden?