Lebensdaten des Komponisten
31. Januar 1797 in Wien – 19. November 1828 in Wien
Entstehungszeit
2.–7. März 1815
Uraufführung
Unbekannt, wahrscheinlich Frühjahr 1815 in der Pfarrkirche Liechtenthal
Das Werk beim BRSO
Erstaufführung: 24./25. Oktober 2002 im Herkulessaal unter Riccardo Muti
Zuletzt auf dem Programm: 29./31. März 2007 im Herkulessaal und im KKL Luzern unter Mariss Jansons
Inmitten der Lieder und Instrumentalwerke Franz Schuberts mag die Kirchenmusik (abgesehen von den Messen in As- und Es-Dur) heute ein eher unscheinbares Dasein führen – in seinem eigenen Leben nahm sie früh einen zentralen Platz ein. Als Erster Sopranist im Kirchenchor seiner Heimatgemeinde Liechtenthal erhielt er Unterricht vom Chorleiter, bis er 1808 als Zögling des k.k. Stadtkonvikts Sängerknabe der Kaiserlichen Hofkapelle wurde. Hier begegnete er erstmals bedeutender Kirchenmusik, etwa von Mozart und den beiden Haydns, und versah daher gern den anderen Zöglingen eher lästigen Dienst, bis er im Juli 1812 notierte: »Schubert Franz zum letztenmahl gekräht.« Seitdem entstanden eigene Stücke zum liturgischen Gebrauch.
Nach Stimmbruch und Konviktszeit besuchte Schubert wieder jeden Sonn- und Feiertag den Liechtenthaler Kirchenchor – wohl auch, weil er dort seine Jugendliebe treffen konnte: Therese Grob, nach Auskunft eines Freundes »ein frisches kindliches Rundgesichtchen, mit schöner Sopranstimme (bis zum hohen D reichend)«, wohnte in der Nähe der Kirche. Der Sopran-Solopart seiner ersten Messe in F-Dur (D 105) war eigens für sie maßgeschneidert, und wahrscheinlich sang Therese auch die markant hervorgehobenen Sopransoli in der G-Dur-Messe. Das Mädchen schien zwar seine Gefühle zu erwidern und einer Heirat nicht abgeneigt zu sein, aber Schubert, der sich vergeblich um eine adäquate Stelle bemühte, konnte die Unternehmerstochter als armselig bezahlter Hilfslehrer unmöglich ehelichen. Mit einem Bäcker machte sie 1820 eine bessere Partie.
Die Komposition funktionaler Kirchenmusik, eine Aufgabe, die persönliche Empfindungen sonst eher ausschloss, hatte für Schubert also durchaus einen affektiven Lebensbezug. Dass er dabei auch planvoll an seiner Karriere arbeitete, zeigt gerade die F-Dur-Messe D 105 von 1814, mit der der junge Komponist erstmals an die Öffentlichkeit trat. Anlässlich des 100-jährigen Jubiläums ihres Bestehens leistete sich Schuberts Heimatkirche ein feierliches Hochamt, und dem 17-Jährigen gelang mit einer meisterhaft komponierten Missa solemnis im Stil von Haydns großen symphonischen Orchestermessen ein glänzendes Debüt. Und der Erfolg schien Schubert noch zu beflügeln: Mit Gretchen am Spinnrade folgte der erste geniale Wurf im Liedschaffen, und auch 1815 war ein äußerst fruchtbares Jahr, in dem trotz Arbeitsfron an der väterlichen Schule u. a. 145, oft bedeutende Lieder, zwei Singspiele, zwei Symphonien und zwei Messen entstanden.
Abermals für Liechtenthal schrieb Schubert Anfang März 1815 – in nur sechs Tagen – seine zweite Messe, diesmal allerdings für einen kleineren Anlass oder den Sonntagsgottesdienst. In ihren knappen Ausmaßen, ihrer relativ bescheidenen Tonsprache und der originalen Streicherbesetzung ist sie äußerlich ein typisches Beispiel der Missa brevis, die im kirchenmusikalischen Alltag vor allem auf leichte Praktikabilität abzielte. Später fügte Schubert noch Trompeten und Pauken hinzu, die nicht nur mehr Glanz bringen, sondern auch die Dramaturgie der Mittelsätze entscheidend aufwerten. 1847 bereicherte dann Bruder Ferdinand die Partitur noch um einige Holzbläser, doch bereits das von Schubert so sparsam wie subtil eingesetzte Streichorchester webt ein kunstvolles Klanggewand, das dem feinen, zartgetönten Charakter der Messe entspricht.
Überhaupt gilt diese, seine kürzeste, schlichteste und im 19. Jahrhundert beliebteste Messe unter Kennern als schönstes Sakralwerk des frühen Schubert. Bereits im Gloria – dem Satz, der am stärksten klassischen Vorbildern folgt – erstaunt das hohe Niveau dieser »Gebrauchsmusik«. Reiche Details sorgen für stete Abwechslung, sind aber einem dynamischen und motivisch kohärenten Bogen untergeordnet, der das Stück zu einer symphonisch geschlossenen Form rundet. Vor allem das »Domine Deus«, in dem ein Sopran-Bass-Duett, der deklamierende Chor und ein markantes Violin-Thema kunstvoll ineinandergreifen, bezeugt die meisterhafte Beherrschung spätklassischer Vertonungstechnik, die Schubert hier genial auf die kompakte Form überträgt.
Ein neues Ideal der privaten Andacht
Dem gesamten Zyklus verleiht das melodische Material einen festen Zusammenhalt: Die meisten Motive beruhen linear auf der Tonleiter, so dass sich der einheitliche »Ton« eines kantabel strömenden Melos einstellt, den der liedhafte Beginn des Kyrie mit seiner ruhig wiegenden Bewegung sogleich anstimmt. Wie in seiner ersten Messe – und zuvor schon Beethoven – gibt Schubert damit die repräsentative Haltung der früher üblichen Kyrie-Rufe auf und huldigt einem neuen Ideal der bürgerlich-privaten Andacht: Die »wahre Innigkeit des religiösen Gefühls« nannte es Beethoven. Den Konventionen der vom Kaiserhof geförderten Volksfrömmigkeit entspricht der meist akkordisch-schlichte Chorsatz, der im kirchenliedartigen Beginn des Credo sogar Gemeindegesang zu stilisieren scheint.
Dennoch lässt sich die Messe nicht einseitig auf Volksnähe und unbekümmerte Melodienseligkeit festlegen: Schon nach der ersten Lied-Periode bringen die – nun doch traditionellen – Kyrie-Rufe rhythmische Unruhe in die fließende Bewegung, und pathetische Moll-Klänge trüben die lichte, reine Klangwelt des G-Dur. Auf die insistierend flehenden Gebärden des Solo-Soprans antworten weitere Chorrufe, mit denen der Fluss der Musik vor der Reprise schließlich ganz ins Stocken gerät – auskomponierter Stillstand, in dem die innig Betenden an der Aussicht auf Erbarmen zu zweifeln scheinen.
Ob die Textlücken im Credo von Schuberts Messen nun Glaubenszweifel, jugendlichem Protest oder einfach Vergesslichkeit zu verdanken sind, ist noch immer unklar. Erstaunlich bleibt auch, dass das Fehlen zentraler Glaubenssätze wie »Et exspecto resurrectionem« und »Et unam sanctam catholicam et apostolicam ecclesiam« offensichtlich geduldet wurde. Dass Schubert wahrscheinlich die Kirche als Institution nicht anerkannte, zeigt die mit seinem Bruder Ignaz geteilte Abneigung gegen das »Bonzengeschlecht«. In der Tradition aufklärerischer Pfaffen-Karikatur beschrieb er 1818 einen Priester als »bigottisch wie ein altes Mistvieh, dumm wie ein Esel und roh wie ein Büffel« – was indessen nicht auf mangelnde Religiosität schließen lässt. Wie Briefe und Tagebucheinträge zeigen, lebte Schubert einen dogmatisch ungebundenen Glauben und eine spontan emotionale Frömmigkeit, die er mit anderen liberal eingestellten Zeitgenossen teilte. Man darf annehmen, dass sich schon der Schüler Schubert, der übrigens 1814 schlechte Noten in Religion kassierte, seine eigenen Gedanken über die Glaubensinhalte machte.
Das so schön schlicht und volksfromm eingerahmte Credo birgt nämlich einen Mittelteil, in dem er die konventionellen Vertonungsmuster der Christus-Lehre recht eigenwillig handhabt: Während sonst ein verhaltener, weihevoller Einsatz das »Et incarnatus est« hervorhebt, beginnt Schubert diesen von einer aufblühenden Violinfigur begleiteten Teil bereits mit »qui propter nos homines« und akzentuiert damit eher den Gedanken an die lebenden Menschen als das Mysterium der Fleischwerdung. Der grelle Kontrast zwischen dem düsteren Mollton der Kreuzigung und dem Dur-Jubel der Auferstehung entspricht der Konvention, aber Schubert spannt den dramatischen Bogen noch über das Jüngste Gericht hinaus bis zur Verkündung des Reiches Christi. Wo man strahlende Glorie erwartet, kulminiert die Musik in einem mächtigen Chor-Unisono, das mit schauerlich verstörender Wirkung um eine große Sept nach unten stürzt.
Barocke Rhetorik und zeitliche Entgrenzung
Auch im bei Haydn meist weihevollen Sanctus zeichnet Schubert mit barocker Rhetorik das Bild eines Gottes, der in furchterregender Majestät unter seinen Heerscharen thront. Umso deutlicher tritt im Benedictus wiederum das »Menschliche« hervor: Intensiviert von der immer reicheren Begleitung, darf sich eine lange, innige Melodie ungehindert entfalten und kanonisch wiederholen. Wie in manchen langsamen Sätzen des späten Schubert stellt sich ein Eindruck von zeitlicher Entgrenzung ein. Das Benedictus ist das kontemplative Herzstück der Messe.
Bislang noch unbekannte Tiefen des Ausdrucks öffnet das Agnus Dei: Schwere Seufzer und eine herbe Moll-Harmonik steigern die durchaus konventionelle Klagestimmung bis zur Trostlosigkeit, die auch das Dona nobis pacem nicht aufheitert. Zwar verströmt der Gebetston des Chores Wärme und Innigkeit, aber die Soli zwingen die Musik jedes Mal in das Moll zurück. Zwischen der Klage des Einzelnen und dem kollektiven Gebet der Gemeinde findet keinerlei Vermittlung statt: Das Subjekt bleibt allein mit seiner untröstlichen Trauer. Selbst der Dur-Schluss klingt eher schwach und unsicher. Die Frage, ob wirklich Frieden möglich sei, bleibt damit zwischen der fatalistischen Klage des Soprans und dem schlicht-naiven Chorgebet in der Schwebe.
Schuberts frühe Messe in G mag noch nicht in musikalisches Neuland vorstoßen – ihre Schönheit und die Tatsache, dass ihr teils unorthodoxer Umgang mit dem Text zur Interpretation herausfordert, machen sie dennoch zu einem kleinen Kunstwerk.