Lebensdaten des Komponisten
9. Februar 1885 in Wien – 24. Dezember 1935 in Wien
Entstehungszeit
1914
Widmung
»Meinem Lehrer und Freunde Arnold Schönberg in unermesslicher Dankbarkeit und Liebe«
Uraufführung
5. Juni 1923 in Berlin unter der Leitung von Anton Webern (Präludium und Reigen); 14. April 1930 in Oldenburg unter der Leitung von Johannes Schüler (das ganze Opus 6)
Das Werk beim BRSO
Erstaufführung: 18. April 1958 im Herkulessaal unter Lorin Maazel in der musica viva
Weitere Aufführungen unter Rafael Kubelík, Horst Stein, Hans Zender, Sir Colin Davis, Bernard Haitink und Franz Welser-Möst
Zuletzt auf dem Programm: 13./14. Mai 2010 im Herkulessaalunter Vladimir Jurowski
Überforderung kann eine Glückseligkeit sein – zumindest dann, wenn man sich auf der Seite der Hörenden von Musik befindet. Und dass Alban Berg die Zuhörer seiner Drei Orchesterstücke op. 6 überfordern würde, war ihm vollauf bewusst. Er hielt die Partitur für die komplizierteste aller je geschriebenen. Sein späterer Schüler Theodor W. Adorno erinnert sich: »Als er mir die Partitur zeigte und erläuterte, meinte ich, unterm ersten graphischen Eindruck: ›Das muss klingen, wie wenn man Schönbergs Orchesterstücke und Mahlers Neunte Symphonie zugleich spielt.‹« Und Adorno weiter: »Nie werde ich das Bild der Freude vergessen, die das für jedes Kulturohr bedenkliche Kompliment auf seinem Gesicht entzündete. Mit einer Wildheit, die alle johanneische Sanftmut lawinengleich unter sich begrub, sagte er: ›Ja, da müsste man einmal hören, wie ein Blechbläserakkord von acht verschiedenen Tönen wirklich klingt‹, so als wäre er gewiss, dass kein Publikum solche Akkorde überleben dürfte.«
Das Publikum hat, seitdem diese Worte gesprochen und die Drei Orchesterstücke komponiert wurden, natürlich viel erlebt und überlebt an musikalischen Kühnheiten. Doch bis heute wirkt Bergs 1914 entstandenes Werk wie ein Angriff auf die Hörgewohnheiten bürgerlicher Konzertsaalmusik, in ihrer gewollten Überforderung des Publikums wie eine Ungeheuerlichkeit. Dabei wollte Alban Berg nie ein Revolutionär sein. Er begriff sich vielmehr als »natürlicher Fortsetzer richtig verstandener, guter, alter Tradition«. Und tatsächlich erweisen sich auch die Drei Orchesterstücke als ein Reservoir von Vergangenheit, deren machtvoller Nachhall sich allein schon in den Satztiteln zeigt: Präludium, Reigen, Marsch. Durch die Art und Weise aber, wie Berg die musikalische Vergangenheit in sein Werk integriert – als Trümmer nämlich, Splitter und Fetzen –, öffnet sich zugleich auch ein beklemmend prophetisch klingender Raum an Zukunft. Schon die Zeitgenossen empfanden Bergs überbordende, oft alptraumhafte Musik als einen Vorboten der Katastrophe des Ersten Weltkriegs, an dessen Vorabend sie entstand. Ein Durchbruchsstück, wie es kaum ein zweites in der Orchestermusik des 20. Jahrhunderts geben sollte.
Ein Meister-Schüler-Werk
Im Jahr 1904, da ist er 19 Jahre alt, wird Alban Berg Schüler von Arnold Schönberg. Bis 1910 geht er bei ihm in die Lehre, doch bleibt Berg dessen Meisterschüler weit über die eigentliche Studienzeit hinaus, bis zu seinem Tod 1935. Einer besonders kuriosen Begebenheit dieses Meister-Schüler-Verhältnisses verdanken sich mehr oder weniger direkt die Drei Orchesterstücke op. 6, die »meinem Lehrer und Freunde Arnold Schönberg in unermesslicher Dankbarkeit und Liebe« gewidmet sind.
Willi Reich, der große Biograph der Zweiten Wiener Schule, berichtet von einem Besuch Bergs bei Schönberg im Juni 1913 in Berlin, an dessen letztem Tag es »zu einer Berg zutiefst aufwühlenden Auseinandersetzung mit Schönberg« kam. »Dieser scheint seinen ehemaligen Schüler energisch auf gewisse Schwächen seines damaligen Schaffens hingewiesen zu haben. Es waren wohl insbesondere die aphoristische, weitere thematische Entwicklungen ausschließende Form der jüngsten Werke – der Altenberg-Lieder op. 4 und der im Frühjahr vollendeten Vier Stücke für Klarinette und Klavier op. 5 –, die Schönberg zu heftigem Tadel Anlass gab.«
Kaum in Wien zurück, schreibt Berg an Schönberg: »Ich muss Ihnen doch ebenso für Ihren Tadel danken wie für alles, was ich von Ihnen erhielt, wohl wissend, dass er gut gemeint – zu meinem Besten ist. Ich brauche Ihnen, lieber Herr Schönberg, auch nicht zu sagen, dass mein großer Schmerz deswegen eine Gewähr dafür ist, dass ich den Tadel beherzige. Und wird mir also meine gute Vornahme gelungen sein, dann wird auch dieser Schmerz seine Bitterkeit verloren haben, und gerade er zu jenen Erinnerungen gehören, die – wie allemal, wenn Sie mir mit unerbittlicher Wahrheit ins Gewissen redeten – trotz des Niederdrückenden davon voll tiefer, wenn auch ernster Schönheit waren.«
Als »gute Vornahme« dachte Berg zunächst an die Komposition einer Suite – »vielleicht gelingt mir doch einmal etwas Heiteres«. Doch aus der Suite wurde etwas anderes, nicht eben Heiteres: drei Sätze für große symphonische Besetzung mit vier- bis fünffachen Holzbläsern, sechs Hörnern, vier Trompeten, vier Posaunen, Kontrabasstuba, Celesta, zwei Harfen, Schlagzeug und stark besetzter Streichergruppe. Nach Schönbergs und Anton Weberns Vorbild nannte Berg sein Opus 6 Drei Orchesterstücke – und schenkte zumindest zwei der Sätze, die bis zum 13. September 1914 vollendet waren, seinem verehrten Lehrer zum 40. Geburtstag.
In einem Brief an Schönberg aus der Entstehungszeit der Drei Orchesterstücke heißt es: »Die 3 Orchesterstücke entsprangen wirklich dem angestrengtesten und heiligsten Bemühen, in der von Ihnen gewünschten Form Charakterstücke zu arbeiten, von normaler Länge, reicher thematischer Arbeit, und ohne jede Sucht, unbedingt etwas ›Neues‹ zu bringen.« Das Neue aber brachten die Drei Orchesterstücke mit einer Unbedingtheit, die ihresgleichen sucht.
Aus ungestalteten Tiefen: Präludium
Urweltlich, wie ein Präludium – ein Vorspiel – noch nie begonnen hat, hebt das erste der Drei Orchesterstücke an: aus dem reinen Geräusch. Vereinzelte Impulse von Großem Tamtam und Becken, ferne Wirbel von Kleiner und Großer Trommel, leise und wie aus dem Nichts entstehend. Es ist gefühlt ein unendlich weiter Weg von diesen ungestalteten Tiefen hin zu ersten Klang- und Klagegesten der Bläser und Streicher, auch wenn sie sich bei Berg auf engstem Raum abspielen. Wortlose Miniaturdramen, kurzzeitig aufblitzende instrumentale Szenen, deren Verwandtschaft mit dem gleichzeitig begonnenen Wozzeck, Bergs Opern-Erstling, unverkennbar ist.
Zwischen Sehnsucht und Erregung schwankt die Stimmung, bis sie eins ums andere Mal abbricht und in jäher Plötzlichkeit in sich zusammenfällt. Da will sich etwas aufschwingen – »wogend«, wie es in der Partitur heißt –, um endlich mehr als nur zu beginnen, sondern aufzutreten, vorzuspielen. Doch die Versuche münden nur immer wieder in ein Auf und Ab von Wohl und Weh, bis dann doch – »alles übertönend« – ein Höhepunkt erreicht wird und das Spiel ein Ziel gefunden zu haben scheint. Das Präludium aber wendet sich von dort an nicht ins Offene, ins Weite, von dem die zerrissenen Expressionslinien zuvor so sehnsuchtsvoll gekündet haben. Sondern es fällt – wie ein Präludium noch nie geendet hat – in das geräuschhafte Niemandsland des Anfangs zurück. Noch bevor das Spiel seinen Anfang nehmen konnte, hört es auf, zu sein.
Fetzen einstiger Melodien: Reigen
Wie weitermachen nach diesem Ende, nach dem es einen Neuanfang kaum geben kann? Kaum zu glauben, dass Berg das zweite Stück mit Reigen überschreibt, einem der Inbegriffe von Tanz und Geselligkeit. Wenn zu Beginn des Satzes die Hörner und gedämpften Geigen eine stehende Klangfläche »ohne Ausdruck« in die Weite des leeren Raumes spannen, dann geschieht dies – wie Berg in der Partitur fordert – »etwas zögernd«. Das ist schon fast eine Irreführung. Es will einem der Atem darüber stocken, dass da überhaupt noch Musik möglich ist nach jenem Präludium!
Schon setzt – »leicht beschwingt« – ein Solo-Fagott ein: wie ein letzter Überlebender nach einer Katastrophe, der es noch einmal wagt, seinen Fuß auf verbrannten Boden zu setzen. Ein Traumtänzer über dem sinistren Grund fern tönender Tamtams. Und dieses traumhaft-alptraumhafte Aufbrechen zu neuen, alten Ufern glückseliger Geselligkeit, vereint in Tanz und Spiel, will in der Folge immer wieder Fahrt aufnehmen in stürmisch aufgegriffenen Fetzen einstiger Walzer- und Ländlermelodien. Doch bleibt es eben bei nicht mehr als Fetzen, die sich zu keinem Reigen mehr formen wollen.
Was Berg hier collagiert, schichtet und türmt an fragilen, bruchstückhaften Melodien, ist das Inbild eines Zerfalls am Rande eines Abgrunds. Wie schmerzvolle Erinnerung tönt es aus diesem Stück, das nur noch vom »Echoton« geprägt ist, wie Berg an einer Stelle der Partitur die Hauptstimme von Flöte und Klarinetten suggestiv bezeichnet. Der Reigen, der keiner mehr ist, verklingt auf einem stehenden Akkord des gesamten Orchesters. In ihn hinein tönt der Ruf von Hörnern und Trompeten »wie aus der Ferne«. Wo die schönen Trompeten blasen, das war einmal.
Eine Welt, wie sie nie mehr sein wird: Marsch
Und so ist der finale Marsch der logische Abschluss dieser Trias. Denn wie auch dieser Marsch kein Marsch mehr ist, so macht er noch radikaler als die Sätze zuvor den Rand des Abgrunds hörbar, auf dessen schmalem Grat er angesiedelt ist. Was dort zumeist im Untergrund brodelte, wird hier nun an die Oberfläche gekehrt. Bergs Orchester entfesselt all das, was schon immer an Gefahrvollem, Auftrumpfendem und Dumpfem in Marschmusik lauerte, an Scheinwelt und Gewalt.
Eine Fülle nichtiger Floskeln schichtet und türmt Berg auch hier, indes alptraumhafter denn je. »Bergs Orchesterstücken insgesamt ist geradezu überdeutlich abzulesen, wie das Individuum mit einer unkontrollierbaren Menge kämpft, die es unterdrückt, es erstickt«, meinte der Dirigent Michael Gielen. Auf den Marsch trifft das in besonderer Weise zu. Wie Hohn in den Ohren des Verängstigten, des schutzlos Ausgelieferten klingen die fratzenhaften Marschfantasien in »flottem Marschtempo«, wie die Partitur unerbittlich feststellt. Und ein Entkommen ist nicht möglich. Am Ende ist es – wie in Gustav Mahlers Sechster Symphonie – ein Hammerschlag, der nicht nur die Musik zertrümmert. Zerstört wird auch eine Welt, wie sie nie mehr sein wird.