Jetzt kommt Arnold Schönberg ins Spiel, noch wilder unterwegs als Paul Hindemith, obwohl er 21 Jahre älter ist. Schönberg ist ein Feuerkopf der Extraklasse. Extrem erfinderisch. Noten schreiben von Hand nervt ihn, also entwickelt er eine Notenschreibmaschine, 1911 offiziell patentiert. Und damit die Notenlinien auch ordentlich in Reih und Glied platziert werden können, erfindet er gleich noch ein eigenes Gerät für das Ziehen der Notenlinien – genannt Rastral. Das wars aber noch lange nicht: Arnold Schönberg entwickelt eine Tennisschrift und ein Schachspiel für vier Parteien. Wer die Ehre hat, sein Haus in Wien zu betreten, der muss sich in Acht nehmen, dass ihm kein Pingpongball aus dem hauseigenen Tischtenniszimmer um die Ohren fliegt. Vor allem wird der Besucher aber sehen, dass Arnold Schönberg ein Allroundkünstler ist: Selbstgemalte Bilder schmücken die Wände, die funktionalen, nach dem Vorbild der Bauhaus-Architekten gebauten Möbel sind selbst geschreinert. Und in der Spieleschublade liegen vom Meister persönlich gezeichnete Spielkarten. Im Kopf von Arnold Schönberg zünden laufend neue Ideen. Er ist ein Revolutionär. Ihn schreckt das ewig Gleiche, das Festhalten an Traditionen, die längst eingeschlafen sind.
Arnold Schönberg
13. September 1874 in Wien – 13. Juli 1951 in Los Angeles
Klavierkonzert, op. 42
Entstehungszeit: Juni bis Dezember 1942
Uraufführung mit Live-Radioübertragung: 6. Februar 1944 in New York mit dem NBC Symphony Orchestra unter Leitung von Leopold Stokowski, Klavier: Eduard Steuermann
Zwölf Töne
Also rüttelt und schüttelt er die Regeln der bisherigen Kompositionskunst und schafft etwas völlig Neues: Die »Komposition mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen« – kurz die Zwölftontechnik. Dur oder Moll? Uninteressant! Tonika, Subdominante und Dominante haben ausgedient, Dissonanzen müssen nicht aufgelöst werden, weil sie gar nicht mehr als solche gelten. Alle Töne sind gleich wichtig. Wermutstropfen ist, dass es kaum Ohrwürmer bei Schönberg gibt. Stattdessen eher Oh!-Würmer. Melodien, die so lang und wenig eingängig sind, dass sie sich nicht mal ein Superhirn merken kann. Eine solche macht den Anfang in Arnold Schönbergs Klavierkonzert op. 42. Sie ist 39 Takte lang! Das, was Arnold Schönberg hier entwirft, ist keine Melodie, wie sie Bach oder Mozart meinten: nichts zum Mitsingen, nichts mit Wiedererkennungseffekt. Es ist Material.
Die zwölf Halbtöne unserer in der westlichen Welt verbreiteten Tonleiter. Jeder Ton kommt einmal, danach wird diese zwölftönige Reihe rückwärts abgespielt bzw. »abkomponiert« – das heißt dann Krebs, weil der Krebs ja rückwärts läuft wie die Musik. Und dann wird die Zwölftonreihe noch auf den Kopf gestellt, sozusagen gespiegelt: Ein Intervall, das im Original drei Töne rauf geht, wird jetzt also zu einem Intervall, das drei Töne runter geht. Das heißt Umkehrung und dann gibt’s schließlich noch die vertrackte Krebs-Umkehrung. Klingt kompliziert. Am Ende ist es einfach nur ein anderes System, Musik zu organisieren.
Der Orchester-Krimi
Farbe bringt das Orchester ins Spiel – Special Effects included. Die Flöte bläst Flatterzunge, die Rührtrommel schnarrt, die Streicher beklopfen mit ihren Bögen die Saiten. Das hat stellenweise Krimiqualität und würde als Filmmusik taugen. Insgesamt tut Schönberg so, als wäre das große Orchester ein Kammerensemble. Verstecken im satten Tutti-Streichersound? Fehlanzeige. Jedes Instrument ist solistisch aktiv. Selbstverantwortung ist Pflicht! Natürlich stiehlt niemand dem eigentlichen Solisten die Show. Der sitzt am Klavier und ist immer gut hörbar, hat viele schnelle Noten zu bewältigen, und weil ja die Melodien von Schönberg so schwer ins Ohr gehen, ist es auch besonders schwer zu spielen.
Lebensstationen
»Schwer zu hören!« Haben sich Musikkritiker nach der Uraufführung dieses Klavierkonzertes 1944, also noch mitten im Zweiten Weltkrieg, beklagt. Ist das wahr? Wer es schafft, Erwartungen loszulassen, sich offen einlässt auf die Klänge, die dieses Konzert zu bieten hat, und sich mitnehmen lässt von Arnold Schönberg in seinen musikalischen Kosmos – der wird vermutlich keine Hörprobleme kriegen. Und wer eher ein Wissenstyp ist, der kann sich beim Hören darum bemühen, die vier Sätze, die nahtlos ineinander übergehen, auszukundschaften. Es sind Lebensstationen von Arnold Schönberg, die er selbst so betitelt hat: »Das Leben war so leicht – plötzlich brach Hass aus – eine ernste Situation wurde geschaffen – aber das Leben geht weiter.« Klingt nach einem Minidrehbuch zu Arnold Schönbergs Autobiographie. Was ist genau gemeint? »Das Leben war so leicht«, so hatte Arnold Schönberg seine Jugend wohl erlebt. »Plötzlich brach Hass aus« – in diesem zweiten Satz, der gleich zu Beginn dunkel und düster grollt, spielt Schönberg wohl auf die nationalsozialistische Bedrohung an, die er selbst miterlebt hat – als jüdischer Musiker war er von Anfeindungen betroffen: Seine Musik wurde als »entartet« verboten.
1934 emigrierte Arnold Schönberg deshalb in die USA, wo er bis zu seinem Tod im Jahr 1951 blieb. Das Klavierkonzert hatte er dort, also im Exil, geschrieben – wohl als eine Art Rückblick auf sein bisheriges Leben. Der düstere und bedrohlich tönende dritte Teil des Klavierkonzerts, beschrieben mit »eine ernste Situation wurde geschaffen«, könnte den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges bezeichnen. Der vierte Teil »das Leben geht weiter« kommt gelassener und leichtfüßiger, manchmal sogar tänzerisch daher: Schönberg findet wieder Lebensmut im Exil. So jedenfalls deutet es der amerikanische Pianist und Komponist Stefan Litwin, der ein Büchlein über dieses Klavierkonzert verfasst hat: Musik als Geschichte – Geschichte als Musik heißt es. Und egal, wie man Schönberg findet – eines ist sicher: Arnold Schönberg hat die Musikwelt unsicher gemacht …