»Ach, wenn wir nur auch clarinetti hätten! – sie glauben nicht was eine sinfonie mit flauten, oboen und clarinetten einen herrlichen Effect macht.« So seufzte Mozart 1778 aus Mannheim gegenüber seinem Vater in Salzburg, wo Klarinetten noch nicht im Orchester eingeführt waren. Als ob Wolfgang Amadeus nicht genug Verdienste um die Musik hätte, kommt auch noch sein Einfluss auf die Verbreitung dieses Rohrblatt-Instruments hinzu, entwickelt um 1700 aus dem französischen Chalumeau. Er war es, der in seinen Wiener Jahren – wohl nach Pariser und Londoner Vorbild – vorschlug, den Tonumfang der Klarinette um vier Halbtöne nach unten zu erweitern, und – gesagt, getan – war er es auch, der dann sein Klarinettenquintett und sein beliebtes Klarinettenkonzert für diese neue Instrumenten-Version namens Bassettklarinette komponierte. Mozarts Wiener Freimaurer-Logenbruder Anton Stadler spielte 1789 beziehungsweise 1791 die Uraufführungen. Auch wenn sich die Bassettklarinette zunächst nicht durchsetzen sollte – der Ruhm des Instrumentalisten Anton Stadler hat sich bis heute gehalten; er gilt als der erste große Solist auf der Klarinette. Bis in die Gegenwart, bis Sabine Meyer hier, Giora Feidman dort, sind zahlreiche Berühmtheiten hinzugekommen – auch im Jazz.
Momentan kann die Klarinette zwar nicht als ein zentrales Sprachrohr des Jazz bezeichnet werden, doch in der Ära des Swing, in den 1930er- und 1940er-Jahren, war sie es zweifellos. Sidney Bechet, Benny Goodman, Artie Shaw und Woody Herman hießen die Protagonisten an der Spitze. Ihre Klarinetten standen im Vordergrund, ihre Swing-Bands dahinter. Besonders innovationsfreudig trat damals Woody Herman hervor. Er vollzog mit seinen diversen Bands, die er »Herden« nannte, die stilistischen Umbrüche im Jazz stets mit – oder fungierte gar als Vorreiter: vom Blues und Swing der 1930er-Jahre über Bebop und Cool Jazz bis hin zum Fusion-Jazz der 1970er-Jahre. Zudem schaute Herman über die Grenzen seines Genres hinaus, indem er Komponisten wie Igor Strawinsky und Leonard Bernstein beauftragte, Konzerte mit Solo-Klarinette zu schreiben. Beide nahmen seinen Auftrag an und komponierten dreisätzige, rund zehnminütige Werke, deren Besetzung auf dem Instrumentarium einer Swing-Bigband basiert: das Ebony Concerto sowie Prelude, Fugue and Riffs.
Igor Strawinsky und sein Ebony Concerto
Lebensdaten des Komponisten
5. (17.) Juni 1882 in Oranienbaum bei St. Petersburg – 6. April 1971 in New York City
Entstehungszeit
1945 im Auftrag von Woody Herman
Widmung
Woody Herman
Uraufführung
März 1946 mit Woody Herman und seiner Bigband unter der Leitung von Walter Hendl in der New Yorker Carnegie Hall
Das Werk beim BRSO
Erstaufführung
Früh schon im 20. Jahrhundert war Igor Strawinsky mit dem Jazz und seinen Vorformen bekannt geworden. Der Dirigent Ernest Ansermet hatte ihn mittels Noten und Schallplatten darauf aufmerksam gemacht. Sie sollten Wirkung zeigen nicht nur in Strawinskys Bühnenwerk Histoire du soldat, geschrieben 1918 in der Schweiz, sondern auch in den nachfolgenden Werken Ragtime für elf Instrumente sowie Piano-Rag-Music. 1939 dann, Strawinsky musste abermals ins Exil, wurde er in den USA erneut stark vom Jazz beeinflusst – aus musikalischen wie außermusikalischen Gründen. Er hatte sich eine neue Existenz aufzubauen in einem Land, das den freien Markt und den Selfmademan bis heute hochhält; Tantiemen flossen in Nordamerika für Strawinsky zunächst nicht, da er bis 1945 kein Staatsbürger war; seine zweite Ehe, nun mit Vera Sudeikina, wurde im März 1940 geschlossen, und ein Haus in Hollywood war zu unterhalten. Strawinsky, notorisch erpicht auf Honorare, war in unsicherer Lage.
Auch so ist zu erklären, dass er in den ersten fünf (Kriegs-)Jahren seines Exils – neben dem Meisterwerk Symphony in C – auch Stücke schrieb, die versprachen, beim Publikum »anzukommen«, etwa ein Arrangement des Star Spangled Banner, dessen Manuskript US-Präsident Roosevelt übergeben werden sollte, etwa eine Circus Polka für die Zirkus-Elefanten von Barnum & Bailey, dazu Filmmusik, die allerdings für das Kino nie umgesetzt wurde. Gleichzeitig jedoch fühlte sich Strawinsky musikalisch weiter stark vom Jazz angezogen, insbesondere durch die von ihm bewunderten Charlie Parker (Saxophon), Art Tatum (Klavier) und Charles Christian (Gitarre). Und er setzte seinem Bekenntnis zu diesen drei schwarzen Musikern hinterher: »Der Blues bedeutet für mich afrikanische Kultur.« So kann es nicht verwundern, dass er in den frühen 1940er-Jahren auch ein Scherzo a la russe für die Paul Whiteman Band schrieb, die 1924 George Gershwins Rhapsody in Blue uraufgeführt hatte, und schließlich 1945 das Ebony Concerto für die Bigband von Woody Herman.
Drei Sätze umfasst das gut zehnminütige Konzert, dessen Titel keineswegs, wie wiederholt behauptet, auf Ebenholz als vermeintliches Klarinetten-Baumaterial zurückgeht. Vielmehr sollte ein edles Synonym für das »Schwarze«, den Blues in der Musik, Verwendung finden. Zur Standard-Besetzung einer Swing- Band (zwei Alt-, zwei Tenor-Saxophone, ein Bariton-Saxophon, vier Trompeten, vier Posaunen plus Klavier, Schlagzeug, Kontrabass als Rhythmusgruppe) zog Strawinsky auch Horn, Harfe und Bassklarinette hinzu.
Im ersten Satz, einem Allegro moderato mit rhythmischen Stolperschwellen in schneller Folge, greift Strawinsky noch einmal den hämmernden Rhythmus seines Sacre du printemps sowie die Melodiebildung seines Petruschka-Balletts auf; der zweite Satz, Andante, ist ein melancholischer, zweistrophiger Blues mit orientalischen Anklängen; der dritte Satz, Moderato, bildet eine Variationsfolge mit Coda. Dreimal nahm Strawinsky das Konzert auf, zweimal mit Herman (wovon eine Einspielung im Internet zu finden ist), einmal 1965 mit Benny Goodman als Solisten. Die Bewältigung jener rhythmischen Schwierigkeiten, die Strawinskys Partitur für Jazzmusiker 1945 mit sich gebracht hatte, war nun technischer Standard geworden. Von der ersten Probe des Stücks 1946 hatte Herman noch berichtet, in seiner »Herde« sei man beschämt gewesen, als Noten auf dem Pult lagen, die keiner lesen konnte. Zu viel Strawinsky, zu wenig Jazz …
Leonard Bernstein und sein Prelude, Fugue and Riffs
Lebensdaten des Komponisten
25. August 1918 in Lawrence, Massachusetts – 14. Oktober 1990 in New York City
Entstehungszeit
1949 im Auftrag von Woody Herman
Widmung der gedruckten Partitur
Benny Goodman
Uraufführung
16. Oktober 1955 in der US-Fernsehserie Omnibus mit Al Gallodoro und unter Leitung des Komponisten
Das Werk beim BRSO
Erstaufführung
Mit der Begeisterung für Swing und den New Yorker City Jazz begann in den 1930er-Jahren Leonard Bernsteins Liebe zum ersten eigenständigen, breitenwirksamen Musik-Genre Nordamerikas. Die frühesten Auseinandersetzungen am Kompositionstisch des als Dirigent erst in den 1940er-Jahren berühmt gewordenen Bernstein fallen genau in die große Zeit des Swing. Für Musikverlage fertigte er Transkriptionen an, und auch seine erste gedruckte Komposition, zugleich sein erstes Werk von individuell-stilistischem Rang, integrierte das Jazz-Idiom. Die kurze Sonate für Klarinette und Klavier (1942) verband neoklassizistische Tendenzen in der Nachfolge von Paul Hindemith mit Stilmerkmalen des Jazz, etwa einem Walking Bass und einer starken Synkopierung. Nun hatte Bernstein ein von ihm vielfach wieder aufgegriffenes Modell gefunden: die Verschmelzung klassischer Kompositionsstrukturen mit den melodischen, harmonischen, rhythmischen Mitteln des Jazz.
Schon der Titel und der Untertitel von Prelude, Fugue and Riffs – for Solo Clarinet and Jazz Ensemble signalisieren Bernsteins Fortschreiten im Sinne des besagten Modells, stellt doch die Fuge eine in erster Linie barocke Kompositionsform dar und der Riff die im frühen 20. Jahrhundert aufgekommene Bezeichnung für ein prägnantes musikalisches Motiv, das wirkungssteigernd vielfach wiederholt wird. Nach der bestellten und gelieferten Komposition von Prelude, Fugue and Riffs (1949) verblieb das dreisätzige, knapp zehnminütige Stück aber erst einmal in der Schublade – sowohl beim Auftraggeber Herman als auch beim Komponisten selbst. Möglicherweise kam es zu keiner Aufführung, weil Hermans zweite »Herde« 1949 auseinanderfiel.
Erst im Oktober 1955 wurde das Werk aus der Taufe gehoben, als es Bernstein in der Funktion eines moderierenden Dirigenten zum Finale einer Folge seiner US-Fernsehserie Omnibus vorstellte. Mittlerweile hatte er Prelude, Fugue and Riffs dem berühmten Klarinettisten Benny Goodman gewidmet, mit dem er es dann auch erstmals für Schallplatte aufnehmen sollte. Doch die Solo-Klarinette der Fernseh-Uraufführung blies Al Gallodoro. Leonard Bernstein führte das TV-Publikum damals mit folgenden Worten in das Werk ein: »Ich hoffe, Sie werden in ihm etwas von der spezifischen Schönheit des Jazz fühlen, wie ich sie fühlte beim Schreiben. Ich halte das Stück für ein ernsthaftes Stück amerikanischer Musik.«
Auch diese Uraufführung ist anzuhören und anzuschauen über Internet. Die Solo-Klarinette soll laut Bernstein aus der typischen Swing-Bigband diskret hervortreten – doch erst im dritten Satz, nachdem das Prelude mit seinen vielen Taktwechseln, Synkopen und Triolenbildungen zunächst dem Blech und der Fugen-Ruhepunkt dann allein den Saxophonen vorbehalten bleibt. Den längeren Riffs-Finalsatz (»for Everyone«, für alle), eingeleitet von einem rollenden Klavier, beherrschen bei jagendem Tempo vorwiegend aufsteigende Tonskalen – vorgestellt von der Solo-Klarinette. Mit seiner schwungvollen Rasanz weist dieser Satz schon auf ein musikalisches Charakteristikum der West Side Story (1957) voraus: Dort stehen die Tänze der weißen Jugendgang »Jets« in der Tradition des New York City Jazz und des damals progressiven Jazz. Bernstein war auf dem Höhepunkt seines Schaffens.