Ob Tanzkapelle, Marching Band, Spielmannsumzug, Volksfestmusik, Militärkorps oder Symphonisches Blasorchester – die Zusammensetzung der Instrumente und das Ausdrucksspektrum zwischen bayerisch-böhmischer Volksmusiktradition, Repräsentationsmusik und großem Orchesterklang ist vielfältig, das Repertoire riesig. Auch klassische Komponisten haben immer wieder die zackigen Marsch- und Polkarhythmen der Blaskapellen aufgegriffen und sich vom schmetternden Blech- und vom singenden Holzbläserklang inspirieren lassen.
So sind etwa mit Percy Graingers Lincolnshire Posy oder Hector Berlioz’ Grande symphonie funèbre et triomphale Werke für sehr spezifische Besetzung und ganz spezielle Anlässe entstanden. Diese Idee greift heute auch Lorenz Dangel auf. Er hat seine neue Komposition PHON eigens für den Symphonischen Hoagascht geschrieben, bei dem Sir Simon Rattle die bayerische Blasmusiktradition mit symphonischer Musik verbindet und Menschen unterschiedlicher musikalischer Herkunft zusammenbringt.
Ein Stück England in Amerika: Lincolnshire Posy
Er galt als eine ebenso exzentrische wie innovative Künstlerpersönlichkeit. Percy Aldridge Grainger wurde 1882 in Australien geboren, war ein musikalisches Wunderkind, ging 1895 nach Europa, um in Frankfurt zu studieren, lebte dann mehrere Jahre in England, wo er sich als Klaviervirtuose einen Namen machte und der Volksmusikforschung widmete, und zog später mit seiner Mutter in die USA. Dort blieb er bis zu seinem Tod, diente für einige Zeit in der Army als Saxophonist in der Militärband, experimentierte in späteren Jahren mit avantgardistischer, wie er es nannte, »freier Musik«, und konstruierte futuristisch anmutende mechanische »Free Music Machines«, eine Art Vorläufer des Synthesizers.
Seine Freundschaft mit dem norwegischen Komponisten Edvard Grieg und dessen Liebe zu den Klängen seiner Heimat regten Grainger dazu an, sich mit englischer Volksmusik zu beschäftigen. So sammelte er mit Hilfe eines Phonographen zahlreiche Melodien, die er später oft in seinen Kompositionen verwendete.
Lincolnshire Posy ist wohl Graingers berühmtestes Werk und gehört heute zum Repertoire vieler Blasorchester. Das Stück entstand in den USA als Auftrag der American Bandmasters Association und wurde 1937 von der Milwaukee Symphonic Band, die sich aus den Orchestern verschiedener lokaler Brauereien zusammensetzte, uraufgeführt. Die sechs Sätze basieren jedoch auf je einem englischen Volkslied. Zwischen 1905 und 1906 hatte Grainger die Lieder auf einer Reise in die Provinz Lincolnshire zusammengetragen und widmete diesen »Strauß musikalischer Wildblumen« nun aus dem fernen Amerika den »Volkssängern, die so lieblich zu mir gesungen haben«. Nicht zuletzt durch seine Zeit in der Band der U.S. Army hatte Grainger eine Affinität zur Blasmusik und verband in diesem Stück seine Liebe zu England mit der Tradition amerikanischer Military und Concert Bands, bestehend aus Blech- und Holzblasinstrumenten sowie Percussion. Da einige Teile für die Mitwirkenden der Uraufführung vor allem rhythmisch zu schwer waren, ließen sie diese einfach aus. »Sie waren mehr auf ihr Bier als auf ihre Musik versessen«, erinnerte sich Grainger später.
Auf das fröhliche Seemannslied Lisbon folgen in erhabener Feierlichkeit die Legato-Melodie von Horkstow Grange und die alte Volksballade Rufford Park Poachers, in der es um eine Reiberei zwischen einer Gruppe von Wilderern und Wildhütern geht. Nach einem weiteren kurzen Seemannslied (The Brisk Young Sailor) erklingt das düstere und kämpferische Lord Melbourne, bevor das Werk mit dem schnellen, rhythmisch akzentuierten und wie eine schwerfällige Tanzmelodie anmutenden The Lost Lady Found endet.
»Jeder Teil soll eine Art musikalisches Porträt des Sängers sein, der die zugrundeliegende Melodie gesungen hat«, so Grainger. Und genauso kontrastreich in Rhythmus und Melodik wie die ursprünglichen Lieder ist auch dieses Stück, das in Amerika ein Stück England aufleben ließ.
Zusammenklang zweier Welten: PHON
Phon – das bedeutet einerseits die subjektiv empfundene Lautstärke, andererseits aber auch Klang, und beide Aspekte schwingen in Lorenz Dangels Werk mit. »Ich bin eigentlich ein Mann der leisen Töne, aber hier wird es zum Teil unglaublich laut«, sagt er. »Vor allem möchte ich aber dem ungewöhnlichen Klang der riesigen Besetzung Raum geben.« Es geht ihm darum, die klassische Hochkultur eines Symphonieorchesters und die Tradition der Blasmusik zusammenzubringen.
»PHON ist ein Ort der Begegnung«, so Dangel. Beide Musikwelten haben in seinem Stück ihren Platz, können sich individuell entfalten, um dann wieder miteinander zu verschmelzen. »Dieser Klangkörper ist wie eine gigantische Orgel, auf der ich die unterschiedlichsten Register ziehen kann.« So wechseln sich in einer Art Rondo-Form Tutti-Teile, in denen alle 292 Musikerinnen und Musiker zusammenspielen, mit fünf Solo-Teilen ab, in denen jedes einzelne Ensemble – also vier Blaskapellen und das BRSO – sich mit seinem eigenen Klang präsentiert. »Beim Komponieren hatte ich das Bild eines Tanzes im Kopf, bei dem alle im Kreis tanzen und abwechselnd immer einer in die Mitte tritt.« Lorenz Dangel beschreibt sein Konzept als ein gegenseitiges Zurufen. »Die Solo-Teile sind eigentlich Variationen von einem einzigen Thema, und das, was dort erklingt, wird darauf von allen zusammen wieder aufgegriffen.« Dadurch schafft er in seinem stilistisch sehr vielfältigen Stück einen musikalischen Zusammenhang.
Im Sommer 2023 hat Dangel alle vier Blaskapellen besucht, ihr Repertoire studiert, sich ihr Instrumentarium angeschaut und vor allem ihrem Spiel gelauscht. In seiner Komposition geht er genau auf die jeweiligen Eigenheiten und die jeweilige Stilistik ein. »Die Blasmusikszene umfasst viel mehr als nur die traditionelle bayerisch-böhmische Musik.« So hat er für die Brass Band Unterallgäu einen Teil geschrieben, der an eine britische Marching Band erinnert. Für die Ulrichsbläser Büchlberg – »eine sehr musikantische Kapelle«, wie er findet – eine fast klassizistisch anmutende Passage. Für die große Klangfülle des Jugendblasorchesters Marktoberdorf einen elegischen Part. Und für die Blaskapelle Möckenlohe etwas ganz Ursprüngliches aus der bayerisch-böhmischen Tradition – »aber mit einem Augenzwinkern«. Dabei hatte er es zum Teil mit sehr spezifischen Instrumenten zu tun, für die er noch nie vorher geschrieben hatte, wie etwa Kornett, Althorn oder Euphonium. Natürlich hat auch das BRSO seinen Solo-Teil, und hier wollte Dangel neben all dieser geballten Bläsergewalt gerade auch den Streichern Gehör verschaffen.
Der Anfang von PHON ist eine einzige Klimax, in der das gesamte Ensemble zu seiner vollen Wucht aufsteigt und die nach rund zwei Minuten in die lauteste Stelle des Stücks mündet. »Hier sieht man, was alles in diesem Klangkörper steckt.« Bevor dann die einzelnen Kapellen sich solistisch herausschälen, lässt Dangel zu Beginn ein Tubamotiv durch den Raum kreisen und reizt damit das ganze Spektrum der Breitwandaufstellung seines Riesenorchesters auf der Bühne aus. Beim Komponieren des Werks hat Dangel zum ersten Mal seine eingespielte Arbeitsweise aufgegeben. Eigentlich schreibt er immer ganz klassisch mit der Hand auf DIN A3-Papier mit sehr kleinen Notenzeilen und lässt das Geschriebene danach erst in ein Notationsprogramm eingeben. »Bei knapp 150 Einzelstimmen wäre das hier aber gar nicht möglich gewesen.« Deshalb hat er nun erstmals direkt im Computer komponiert. »Auch die Partitur für den Dirigenten sieht eher ungewöhnlich aus, da natürlich nicht alles auf eine Seite passt.« Es sei ein sogenanntes Particell, erklärt Dangel, bei dem jedes Ensemble auf wenige Zeilen zusammengefasst wird, damit es übersichtlich bleibt. Zwar sei die reine Monumentalität, wie etwa bei Berlioz, keineswegs seine Absicht gewesen, denn es gebe sehr wohl auch leise, subtile Teile, PHON sprenge aber dennoch in jeder Hinsicht die Dimensionen eines herkömmlichen Konzerts. Nicht nur durch sein schieres Volumen, sondern vor allem durch seinen ganz speziellen Klang.
Inszenierte Freiluftaufführung: Grande symphonie funèbre et triomphale
»Im Allgemeinen gibt es keine Musik im Freien«, schrieb Berlioz in einem Artikel im Journal des Débats, in dem es um die französischen Militärkapellen ging, und fügte hinzu: »Die Orchester, die sich dort Gehör verschaffen sollen, brauchen also eine ganz besondere Organisation, die es ihnen ermöglicht, die ungünstigen Bedingungen, unter denen sie stehen, so vorteilhaft wie möglich zu bekämpfen.« Mit seiner Grande symphonie funèbre et triomphale, die die französische Regierung anlässlich des zehnten Jahrestags der Julirevolution von 1830 bei ihm in Auftrag gegeben hatte, schuf Berlioz ein Werk, das genau diese Voraussetzungen für eine Aufführung unter freiem Himmel erfüllte: eine reine Bläserbesetzung mit zusätzlichem Schlagwerk (erst in einer späteren Bearbeitung fügte er Streicher und sogar einen Schlusschor hinzu), ein riesiges Orchester, das nach ursprünglichen, hochtrabenden Plänen rund 400 Musiker umfassen sollte (schließlich waren es etwas mehr als 200), und zumindest im ersten Satz eine Musik, die im Gehen gespielt werden konnte.
Diese vierte und letzte Symphonie von Berlioz unterscheidet sich stark von ihren Vorgängern, denen jeweils ein Sujet zugrunde lag: das Leben eines Künstlers in der Symphonie fantastique, Literatur von Byron und Shakespeare in Harold en Italie und Roméo et Juliette. In der Grande symphonie funèbre et triomphale griff Berlioz schließlich frühere Ideen, eine Militärsymphonie zu schreiben, wieder auf. Entstanden ist ein ausladendes Werk mit breiten Tempi und getragenen Melodien in den ersten beiden Sätzen und einem hymnischen Jubelfinale. Berlioz komponierte für die typische Besetzung der Revolutionsorchester, die zur Zeit der Französischen Revolution entstanden waren, um die großen Feiern lautstark mit Musik zu unterstützen, und die später den schmetternden Klang zu den Napoleonischen Siegen lieferten.
Das monumentale Stück sollte Berlioz selbst bei einer feierlichen Zeremonie leiten, bei der am 28. Juli 1840 die sterblichen Überreste der Revolutionshelden von 1830 in einer Prozession von der Place de la Concorde zur Place de la Bastille getragen wurden, um dort unter der neu errichteten Julisäule bestattet zu werden. Dem Anlass entsprechend beginnt die Symphonie mit einem Trauermarsch (Marche funèbre), der mehrmals hintereinander gespielt wurde, während sich der Zug in Richtung Place de la Bastille bewegte, und den Berlioz rückwärtsgehend, mit dem Blick in Richtung Orchester dirigierte. Der zweite Satz, ein Trauergebet (Oraison funèbre) als Dialog zwischen Solo-Posaune und Orchester, erklang, als die Musiker am Ziel zum Stehen kamen, während, wie Berlioz in seinen Memoiren berichtet, »die Körper in das monumentale Grabmal hinabgelassen wurden«. Nach Zeitzeugenberichten soll er aber im Jubel der Menge und im Lärm der 50 Trommeln der abziehenden Nationalgarde völlig untergegangen sein. Über den dritten Satz, die finale Apothéose, schrieb Berlioz, der für die pompöse Inszenierung der Feierlichkeiten die passenden Klänge schuf: »Schließlich sollte eine Hymne des Ruhms gesungen werden, die Apotheose, wenn der Grabstein versiegelt wurde und das Volk nur noch die hohe Säule vor Augen hatte, auf der die Freiheit mit ausgebreiteten Flügeln zum Himmel emporschwebte, wie die Seelen derer, die für sie starben.«
Um für die Symphonie, die zunächst nur als Begleitmusik für die Gedenkzeremonie bestimmt war, auch die gebührenden Aufführungsbedingungen zu schaffen, und gemäß seiner Überzeugung, dass man Musik im Freien nicht richtig würdigen kann, gestaltete Berlioz die Generalprobe in der Salle Vivienne zwei Tage vor der Feier als öffentliches Konzert und inoffizielle Uraufführung. Diese war so erfolgreich, dass sie einen Monat später noch zweimal wiederholt wurde. Einem dieser Konzerte wohnte auch Richard Wagner bei: »Wahrlich, ich bin nicht übel Willens, diese Komposition allen übrigen Berlioz’schen vorzuziehen, sie ist edel und groß von der ersten bis zur letzten Note; – aller krankhaften Exaltation wehrt eine hohe patriotische Begeisterung, die sich von der Klage bis zum höchsten Gipfel der Apotheose erhebt. […] Ich muss mit Freude meine Überzeugung aussprechen, dass diese Juli-Symphonie existieren und begeistern wird, solange eine Nation existiert, die sich Franzosen nennt.«
Klassiker moderner Blasmusik: Kaiserin Sissi und Euphoria
Die beiden Konzertmärsche Kaiserin Sissi – von Timo Dellweg für die Kapelle Die Egerländer Rebellen geschrieben – und Euphoria, den Martin Scharnagl 2015 für den Musikverein Wilhelmskirch in Baden-Württemberg komponierte, zählen mittlerweile zu den populärsten Stücken der modernen Blasmusik. Fast jedes Blasorchester hat sie im Repertoire.
Der 1979 im pfälzischen Idar-Oberstein geborene Dellweg spielte in mehreren Blaskapellen und hatte eine langjährige Laufbahn im Bereich der Militärmusik als Flügelhornist und Trompeter beim Luftwaffenmusikkorps in Karlsruhe hinter sich, als er seinen Marsch schrieb. In dieses schwungvolle Stück legte er all seine Erfahrung mit der klassischen Blasmusik zwischen Bayern, Österreich und Böhmen und verband hier Tradition und Moderne.
Auch in Scharnagls Euphoria wird der traditionellen Marschmusik eine zeitgemäße Note verliehen. Das Stück sprüht vor Freude und Euphorie und ist bestens geeignet für unterschiedlichste Kombinationen von Holz- und Blechblasinstrumenten. Da in der Musik auch eine gewisse Feierlichkeit mitschwingt, bildet dieser Marsch den passenden Abschluss eines Programms, das das breite Spektrum der Blasmusik zwischen Straßenumzug, Tanzboden und Konzertpodium mit dem Klang eines Symphonieorchesters zusammengebracht hat.