Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks - BRSO

»Auf nach Nimmerland«

Die Geschichte vom Dirigenten, der nicht erwachsen werden wollte

Essay von Frederik Hanssen

Sir Simon Rattle © BR\Astrid Ackermann

Simon Rattle ist ein Phänomen. Seine Haare mögen weiß geworden sein, die Lockenpracht ist nicht mehr so üppig wie früher, aber wenn er abends auf die Bühne kommt, schäumt er über vor Energie. Dann scheint er immer noch der tatendurstige Twen zu sein, ein Bub, der ganz große Pläne hat – und weiß, dass er die anderen mitreißen kann.

Simon Rattles Jugendlichkeit kommt von innen. Im Herzen ist er stets ein Zukunftsmusiker geblieben, forever young, angetrieben von unstillbarer Neugier. Ja, er ist ein Peter Pan der Klassik, ein Entdecker, der auch jetzt noch, nach fast einem halben Jahrhundert im Business, die Gabe besitzt, Kunstwerke so zu betrachten, als sähe er sie zum ersten Mal. Als habe er just diese oder jene Partitur aufgeschlagen, die ihm in Wahrheit zutiefst vertraut ist.

Routine ist sein Captain Hook, der Erzfeind. Die Orchester, die Sir Simon dirigiert, nimmt er, wenn es gut läuft, mit nach Nimmerland, für die Dauer des Konzertabends. Und das Publikum auch. Nicht von ungefähr lautete der Titel von Nicholas Kenyons Rattle-Biografie in der deutschen Erstausgabe Abenteuer der Musik.

Der Dirigent, der nie erwachsen werden wollte:
Das ist allerdings nur die eine der beiden Seelen, die in Simon Rattles Brust wohnen. Die andere ist die eines gewieften, durch alle Stürme gegangenen Orchesterchefs. Seit seinem 25. Lebensjahr hat Rattle ununterbrochen Leitungspositionen bekleidet. Mit dem City of Birmingham Symphony Orchestra konnte er sich ab 1980 hocharbeiten, internationales Renommee erringen. Er hat dem Orchester einen akustisch hervorragenden Konzertsaal erkämpft und sich selbst für größte Aufgaben empfohlen.

1999 wählten ihn die Berliner Philharmoniker zum Nachfolger von Claudio Abbado, zum September 2017 übernahm er dann den Posten des Music Director beim London Symphony Orchestra. Und jetzt, mit 68 Jahren, auf dem Zenit seines Ruhms, kommt er nach München, als Chefdirigent beim Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks.

Wenn Simon Rattle bei der ersten Probe als designierter BRSO-Chef zur Begrüßung »Guten Morgen, meine Familie« sagt, dann klingt das zauberhaft, ist ehrlich herzlich gemeint und schafft eine Atmosphäre der Verbundenheit, ja einer eingeschworenen Gemeinschaft. We are family. Aber es heißt eben auch: Er ist hier der Erziehungsberechtigte.

Nicht als strenger Patriarch, sondern als väterlicher Freund, als Motivationstrainer. Wenn es um kollektive Aktivitäten geht, um musikalische Familienausflüge, dann gibt es in dieser Gemeinschaft kein Wegducken, kein Ich-hab-keine-Lust-Genörgel, kein bockloses Liegenbleiben. Dann heißt es: Mitkommen, keine Müdigkeit vorschützen, Initiative zeigen! Wir haben ein Ziel vor Augen – und wollen dort gemeinsam ankommen.

So arbeitet Simon Rattle. Denn das lebendige Musizieren, das er so schätzt, setzt nun einmal voraus, dass man sich immer wieder neuen Herausforderungen stellt.

Mit diesem künstlerischen Credo konnte der Sir in seiner Berliner Zeit viele bewegen: Er hat die stilistische Wendigkeit der Musikerinnen und Musiker gefördert, ihren Klangfarbensinn geschärft, viel Französisches und Tschechisches dirigiert, dazu Mozart-Opern, die das Orchester noch nie gespielt hatte, und, natürlich, immer wieder seinen geliebten Joseph Haydn. Er hat für lebende Komponistinnen und Komponisten geworben und Igor Strawinskys Sacre du printemps zum Signaturstück der Philharmoniker gemacht. 21 Mal haben sich die Berlinerinnen und Berliner und ihr Chef in den 16 gemeinsamen Jahren in den Strudel der archaischen Rhythmen und leuchtenden Klangfarben dieses Schlüsselwerks der Moderne gestürzt.

Sir Simon Rattle © BR\Astrid Ackermann

Der Brite hat die Berliner Philharmoniker ins Offene geführt, ihren Horizont radikal aufgerissen. In der Ära Rattle wandelte sich das Image des Orchesters gründlich, vom Elitären zum Weltoffenen, vom Musealen zum Diversen. Er hat zudem die innovativen Ideen der Education-Arbeit aus seiner Heimat mitgebracht und als Kommunikationsgenie in Deutschland populär gemacht. Viele Glücksabende bleiben in Erinnerung.

Und doch konnte der Dirigent bis zuletzt nicht alle von sich und seinem Arbeitsansatz überzeugen. Wird ihm das jetzt in München gelingen? Die Dinge locker angehen, nicht immer schon vorher wissen, wie es zu sein hat oder wo es hinführen muss – das fällt vielen Profis schwer. Denn es kostet Kraft, die bekannten Pfade zu verlassen, sich zu öffnen, unvoreingenommen auch jenen Werken zu begegnen, die nicht zum Kernrepertoire gehören, die ganz neu sind oder fast vergessen.

Aber nur so ist Klassik im 21. Jahrhundert für Simon Rattle denkbar: Seine Interpretationen sollen organisch gewachsen wirken, mit atmenden Melodien und vitalem Drive, nicht wie am Schreibtisch erdacht. Und sie sollen von echten, gefühlsgeschüttelten Menschen erzählen – schließlich sind sie auch für die Ohren solcher Menschen gedacht.

Simon Rattle ist und bleibt eine Herausforderung für jedes Orchester. Sein stilistischer Horizont ist so weit wie sein Herz. Da kann, da mag nicht jede und jeder mithalten.

Doch die Sterne stehen günstig in München: Spät erst hat Rattle beim BRSO debütiert, 2010. Ein Fan des Orchesters war er allerdings bereits als Teenager. 1970 überwältigte ihn ein Gastspiel der Münchner in Liverpool unter der Leitung von Rafael Kubelík mit Beethovens Neunter: »Dieses Konzert sollte mein Leben verändern«, sagte er bei der Pressekonferenz nach seiner Berufung. Was er hier live erlebt hatte, wurde für den jungen Simon zum Maßstab dessen, was er selbst als Musiker erreichen wollte.

Er hat es geschafft – und fächert in seiner ersten Münchner Saison jetzt ein Panorama jener Werke auf, zu denen er besonders viel zu sagen hat. Weil sie ihm im Blut liegen – und am Herzen. Da ist Joseph Haydns Schöpfung, die sich so faszinierend aus dem tönenden Chaos der Ouvertüre entwickelt. Da ist Mozarts chronisch unterschätzte Meisteroper Idomeneo. Aus Großbritannien bringt er Edward Elgars geistreiche Enigma Variations mit und ein brandneues Werk seines Spezis Thomas Adès.

Zu Rattles französischen Favoriten zählt der revolutionäre Romantiker Hector Berlioz. Dessen selten zu hörende Symphonie funèbre et triomphale wird als Finale des Blasmusik-Projekts im Werksviertel zu erleben sein, bei dem 300 Musiker aus ganz Bayern mitwirken sollen. Dazu kommen Werke der raffinierten Klangzauberer Maurice Ravel (mit La Valse) und Claude Debussy (mit Jeux).

Als Spezialist für tschechische Musik zeigt er sich bei Janáčeks Sinfonietta und Dvořáks Slawischen Tänzen. Robert Schumann ist mit der Zweiten Symphonie vertreten und Gustav Mahler mit der Sechsten, der Tragischen, die auch das programmatische Herzstück gemeinsamer Konzerttourneen bilden wird. Und Rattle macht sich einmal mehr für die Gurre-Lieder stark, dieses spätromantische Faszinosum, komponiert vom jungen Arnold Schönberg, lange bevor er über die Zwölftontechnik nachdachte. Rattle hat sie schon als Elfjähriger für sich entdeckt – weil er unbedingt die größte Partitur ausleihen wollte, die in der Liverpooler Musikbücherei zu haben war.

 

Alle Konzerte mit Sir Simon Rattle in der Saison 2023/2024

Simon Rattle hat viel nachgedacht übers Musikmachen, über Funktionsmechanismen von Orchestern und seinen eigenen Berufsstand. »In dem Moment, wenn du denkst, es geht um dich, wenn du nicht glaubst, dass die Musik etwas viel Größeres ist, hast du ein Problem«, sagt Rattle 2008 in dem Dokumentarfilm Trip to Asia von Thomas Grube.

»Um wirklich erfolgreich in einem großartigen Orchester spielen zu können, muss man eine außergewöhnlich starke Persönlichkeit sein. Und man muss sich außerdem selbst zügeln. Die Spannung zwischen diesen beiden Polen ist sowohl die Quelle des Problems für die einzelnen Musiker als auch die Quelle dieses Mysteriums, das ein Orchester ausmacht.«

Bei allem Erfolg, den Simon Rattle in seiner glanzvollen Karriere erlebt hat, betrachtet er seinen Beruf ebenso nüchtern wie realistisch. Denn der Dirigent tritt stets allein einer Gruppe gegenüber. Er mag sich wie der Boss gerieren, doch die Musikerinnen und Musiker sind nun einmal in der Überzahl.

»Sie sind wie die Meistersinger: eine Gilde«, sagt Rattle. Und ermahnt sich und seine Kolleginnen und Kollegen: »Wir sollten niemals vergessen, dass wir zu dieser Gilde nicht gehören. Wir dürfen dabei sein, wir dürfen teilhaben.«

Wer das Peter-Pan-Gen besitzt, vermag Orchester allerdings leichter auf seine Seite zu bringen als die klassischen Pultdespoten.

Wenn wir uns einig sind, wenn alle in dieselbe Richtung streben, dann können wir fliegen.
Sir Simon Rattle
Sir Simon Rattle © BR\Astrid Ackermann