»Servus, genau. Und dann einfach nicken«
Was Musik alles sein kann: Ein Gespräch mit Sir Simon Rattle über das Orchester des 21. Jahrhunderts, Perfektion (Seufzer), Frustration (kommt vor), Blasmusik (faszinierend) und den besten Rat seines Lebens.
Interview von Sarah-Maria Deckert

Sir Simon, beginnen wir am Anfang, also: bei der Erschaffung der Welt. In der neuen Spielzeit steht als erstes eines Ihrer absoluten Signaturstücke auf dem Programm, nämlich Haydns Schöpfung. Wenn Sie dabei die Augen schließen, was sehen Sie dann?
Für mich war offensichtlich, mit der Schöpfung zu beginnen, denn in ihr steckt alles. Die ganze Welt. Sie ist sowohl ein Blick zurück, als auch ein Blick weit in die Zukunft dessen, was Musik alles sein kann. Sie ist Gleichgewicht und Revolution zur selben Zeit, unendlich erhellend, ein Stück Aufklärung eben. Und sicher: Licht gibt es nicht ohne Schatten, aber eben weil wir das wissen, können wir versuchen, mit dem Schatten umzugehen. Die Schöpfung steht für all das, was wir hier mit diesem außergewöhnlichen Orchester und Chor erreichen wollen. Als würden wir ein Fenster öffnen. Wer sich nach diesem Stück nicht automatisch besser fühlt, wer sich seiner Wirkung entziehen kann, braucht meiner Meinung nach wirklich psychiatrische Hilfe. Denn es ist auf so ehrliche Weise gesund. Wenn ich nur ein Werk mit auf eine einsame Insel nehmen könnte – und ich würde nicht Bachs Matthäus-Passion mitnehmen –, dann wäre es dieses.
Worin liegt für Sie das Schöpferische beim Dirigieren?
Ich bin der Schöpfer von gar nichts. Meine Aufgabe ist nicht, Musik zu spielen oder zu schreiben. Aber ich kreiere die Atmosphäre, in der sie am stärksten zu uns spricht. Meine Aufgabe ist es, die Musiker*innen herauszufordern und dazu zu bringen, ihr Bestes zu geben. Als Dirigent war ich immer eher der Kubelík-Typ: Ich will dem Orchester die Möglichkeit geben, zu strahlen. Und es ist viel, viel interessanter, was dabei herauskommt, wenn sich 100 Köpfe begegnen, als wenn nur ein einziger seine Idee einer vermeintlich idealen Interpretation abliefert.
Das BRSO besitzt eine fantastische Ensembledisziplin und versteht, wie man als Kollektiv zusammenwirkt. Gleichzeitig treffen hier enorm starke Persönlichkeiten aufeinander. Und ich sage: Gott sei Dank! Denn manchmal malen sie, wie Van Gogh, nicht nur auf der Leinwand – sondern über den Rand hinaus. Und das liebe ich!
Ein Orchester ist eine Gesellschaft en miniature. Wie wird man in so einem feinfühligen Organismus sowohl dem Individuum gerecht als auch dem großen Ganzen?
Ich frage mich manchmal, ob es irgendeinen anderen Beruf auf der Welt gibt, in dem so viele Menschen mit einzigartigen Fähigkeiten an einer gemeinsamen Sache arbeiten. Das ist, als würden 100 Top-Chirurg*innen gleichzeitig am offenen Herzen operieren, um es zum Schlagen zu bringen. Letztlich geht es um Balance, und darum, den Besten immer wieder zu erlauben, kurz aus der Gruppe hervorzustechen. Nur sollte das für keinen eine frustrierende Erfahrung sein. Wir müssen uns alle unterordnen, aber dennoch sollte man dabei so kreativ wie möglich arbeiten können.
An welchem Punkt wird es frustrierend?
Frustration kommt vor. Musik wäre nicht Musik, wenn man nicht auch mal frustriert wäre. Perfektion… (Seufzt) Kubelík hat einmal gesagt: »Glaubt nicht, dass Präzision Perfektion ist. Perfektion hat viele Formen.« Jeder von uns hat wunderbare Eigenheiten, gerade auch die nicht so perfekten. Und Frustration ist da nicht sehr hilfreich. Außer man findet über sie zu einer Lösung. Wenn die Frustration aber als Gefühl zurückbleibt, ist das wie eine Wunde, die man immer wieder aufkratzt.
Für Ihre zweite Konzertwoche in der Isarphilharmonie haben Sie Mahlers Sechste gewählt, über die Sie einmal sagten, dass sich an ihr ermessen ließe, was ein Orchester leisten kann. Eine Art Bestandsaufnahme des BRSO?
Das würde ich so nicht sagen. Mahler ist ein großer Teil sowohl meines Lebens als auch der Geschichte dieses Orchesters. Ich gehöre noch einer Generation an, die mit einer regelrechten Mahler-Revolution aufgewachsen ist. Manchmal vergessen wir das, weil er heute so omnipräsent ist. Aber früher, in den 1960er, 1970er Jahren, war er eine echte Rarität. Die Vorstellung, dass seine Musik mal zum Repertoire gehören würde, war undenkbar. Wenn man Mahler ein-, zweimal im Jahr hören wollte, musste man den Symphonien regelrecht hinterherreisen. In Liverpool hörte ich den gesamten Mahler-Zyklus gemeinsam mit Freunden zum ersten Mal, ohne zu wissen was mich erwarten würde.
Und es haute mich völlig um. Es war, als würde die Musik zu uns sprechen, auf ungekannte Art und Weise. Mahler sagte selbst: »Meine Zeit wird kommen!« Und er hatte recht. Für mich ist Mahlers Sechste nicht irgendeine Geste. Es ist ein Statement, eine Ikone!
Alle Konzerte mit Sir Simon Rattle in der Saison 2023/2024

Ihre Liebe zu Mahler ist hinlänglich bekannt. Wie geht Ihre Liebesgeschichte mit Betsy Jolas? Eine ihrer Neukompositionen steht Mahler bei Ihrem Antrittskonzert gegenüber.
Ach, das ist eine ganz außergewöhnliche Geschichte! Ich war noch Student, als ich ihre Sachen in der Bücherei der Royal Academy of Arts entdeckte, und ich fragte mich, wer das ist. In Großbritannien war sie völlig unbekannt. Das sah alles sehr interessant aus, aber niemand spielte sie, also dachte ich, so gut kann es nicht sein. Eine unendlich dumme Annahme! Vor ein paar Jahren, gegen Ende meiner Berliner Zeit, war ich zu einem Abendessen bei meinem alten Lehrer John Carewe eingeladen, wie auch Betsy.
Ich hatte ehrlich gesagt keine Ahnung, dass sie überhaupt noch lebte! Wir unterhielten uns den ganzen Abend. Sie war faszinierend, großherzig, lustig, und ich dachte: Ihre Musik muss genau so wunderbar sein. Und in solchen Momenten danke ich Gott für Youtube! Was für eine Komponistin! Ich hörte mich die ganze Nacht durch ihre Musik. Es ist Musik wie ein Spätsommertag, wie ein Spitzenwein, voller Charakter und Farbe. Und sie sagt nie mehr als nötig.
Diese Künstlerin strotzt mit 96 Jahren nur so vor Leben! Vielleicht kommt sie etwas schwerer die Treppen hoch und runter, aber ansonsten ist sie in jeder Hinsicht wahrlich jung. Sie trägt so viel Weisheit in sich – eine perfekte Partnerin für Mahlers wilde, zeitlose Sechste.
Worin liegt für Sie der Reiz, etwas zum allerersten Mal zu dirigieren?
Es ist eine große Freude, einen Klang zu hören, den man davor noch nie gehört hat. Auch alte Musik war mal neu. Mozart wäre vermutlich entsetzt, wenn er wüsste, dass wir seine Stücke heute immer noch spielen… Mahler und Jolas werden wunderbar miteinander harmonieren. Wenn man zwei Stücke kombiniert, hört man dieselben Stücke immer wieder neu und anders. Und damit sind wir wieder bei der Schöpfung: Man sollte alte Musik immer so spielen, als wäre sie neu, als wäre die Farbe noch nicht ganz trocken. Und jede Neukomposition sollte man so behandeln, als gehörte sie selbstverständlich schon zum Kanon der klassischen Meisterwerke.
Die Welt ist eine andere, als noch vor 40, 50 Jahren. Unsere Gesellschaft hat sich massiv verändert, durch politische, soziale, wirtschaftliche, auch künstlerische Umwälzungen. Sie zitieren gerne Herbert von Karajan, der gesagt hat: »Es kommt nicht darauf an, wie der Vogel von Natur aus singt – es kommt darauf an, wie der Vogel singt, nachdem das Leben ihn gezeichnet hat.« Singen Sie heute anders als früher?
(Überlegt lange) Was für Zeiten… Niemals hätte ich es auch nur ansatzweise für möglich gehalten, dass ich mit meinen Kindern darüber sprechen muss, ob ein dritter Weltkrieg droht. Und dass die Dinge, von denen mein Vater erzählt hat, wiederkehren würden. Vor zehn Jahren haben wir noch ganz unbedarft, ja naiv davon geredet, dass das Zeitalter der Diktatoren beim Dirigieren vorbei sei. Aber politisch betrachtet erleben wir einen großen, seltsamen Wandel.
Plötzlich haben es Populisten wieder leicht, was sicher auch damit zusammenhängt, dass wir im Zeitalter der alternativen Fakten leben.
Putin ist ein harter Rückschlag. Und ich glaube, wir brauchen gerade jetzt nicht weniger Musik, sondern mehr! Musik hat mit Menschlichkeit zu tun. Sie sagt so viel mehr, als wir mit Worten beschreiben können. Und sie kann heilen.
Hat sich demnach auch Ihr Selbstverständnis als Dirigent, als Musiker gewandelt?
Ja. Wir sind nicht mehr einfach nur Musiker: Wir sind heute Ärzte, Krankenpfleger und Therapeuten.
Wie sieht es beim Publikum aus? Unsere Welt ist so schnell und laut und ungeduldig geworden. Wie schafft man es in dieser Hektik mit einer kontemplativen Kunstform wie der Musik, der Generation von heute mehr als ein paar Minuten Aufmerksamkeit abzuringen?
Als Musiker sind für mich das Tempo und die Frequenz der Bilder in einem Musikvideo wirklich verstörend. Bis zu einem gewissen Grad ist das natürlich in Ordnung, aber ich empfinde es als unbefriedigend. Irgendwie bleibt davon nichts. Dass jemand einfach nur still sein kann, ist nicht mehr selbstverständlich. Natürlich können Geschwindigkeit und Abwechslung künstlerisch betrachtet ganz fantastisch sein. Aber dieses Bombardiert-Werden ist nicht alles. Unsere Kunst setzt eine Form von Ruhe voraus, die manchmal vielleicht schon etwas Rituelles hat. Man kann klassische Musik nicht verallgemeinern, aber es gibt da eine gewisse Notwendigkeit zur Konzentration. Und manchmal verlangt einem die Stille genauso viel Aufmerksamkeit ab wie ein ganz satter Klang. Daran müssen wir die Menschen erinnern. Aber vermutlich war es um 1900 gar nicht so viel anders…

Was haben Sie am Pult über die Welt gelernt?
Wie viel Zeit haben Sie? (Lacht) Brahms hat seinen Studenten mal folgenden Rat gegeben: »Übt am Tag eine Stunde weniger und lest dafür ein gutes Buch mehr.« Was er meinte: Lebt! Jeden Tag lernen wir neue Dinge. Und von all diesen Erfahrungen können wir am Ende profitieren, wenn wir daraus etwas machen. In der Musik geht es um das Leben – nicht andersherum.
Als Teenager begegnete ich mal einem alten, weisen Schotten, und irgendwie sind alte Schotten immer weise… Er sagte jedenfalls: »Simon, ich glaube, du wirst es weit bringen. Versprichst du mir eine Sache? Egal, wie weit du in deiner Reise kommst, gib’ dich niemals damit zufrieden, anzukommen.« Das ist vermutlich der beste Rat, den ich in meinem Leben bekommen habe. Man sollte nie glauben, dass man den Gipfel erreicht hat – sondern weitersuchen.
Ein Orchester ist ein Produkt seiner Umwelt und zeichnet sich immer durch eine bestimmte Mentalität aus. Über das CBSO sagten Sie einmal, es hätte eine Farbe wie ein Sauvignon Blanc. Wie würden Sie die Farbe des BRSO beschreiben?
Die Menschen in diesem Orchester haben viel Wärme und Herzlichkeit. Ein Orchester trägt auch immer etwas von seinem Gründungsgeist mit sich. Und beim BRSO ist es auch der Geist Kubelíks, dem die Musik und menschliche Beziehungen am allerwichtigsten waren. Das hat sich erhalten. Es gibt hier eine gute Balance zwischen dem, was es zu erneuern gilt, und dem, was bewahrt werden sollte. Und es erinnert mich an etwas, das Karajan einmal zu mir sagte: »Ein Orchester und sein Klang sind wie eure englischen Gärten: Sie sehen wunderschön aus, aber sie müssen gewässert, zugeschnitten und gepflegt werden.« Diese Fürsorge spürt man hier.
In Anbetracht der gesellschaftlichen Veränderungen, über die wir vorhin sprachen: Was zeichnet ein Orchester des 21. Jahrhunderts aus?
Ein Konzert ist heutzutage mehr als sich ein Ticket kaufen, gute Musik hören, applaudieren und dann wieder nach Hause gehen. Diese Zeiten sind lange vorbei, das reicht nicht mehr aus.
Wenn wir in den vergangenen 40 Jahren etwas gelernt haben, dann, dass Menschen eine Community brauchen, eine Gemeinschaft, zu der sie gehören. Ein Orchester ist mehr als nur seine Musiker*innen, und ein Konzert ist mehr als nur das Endprodukt am Aufführungsabend. Es ist der Weg dahin. Und je mehr Menschen man auf diesem Weg mit einbezieht, desto besser. Und zwar mit allen Ressourcen, die zur Verfügung stehen, mit Education-Programmen und modernen technischen Mitteln, um so viele Menschen wie möglich zu erreichen. Zu unserer Aufgabe gehört es, herauszufinden, was ein Orchester heute alles sein kann.
Dass klassische Musik nur etwas für eine bestimmte Schicht sei, ist in Ihren Augen Unsinn. Wenn man nun aber nie gelernt hat, ein Instrument zu spielen oder klassische Konzerte zu besuchen, fehlt einem nicht der Zugang, den man sich im Nachhinein hart erarbeiten, ja gar erkämpfen muss? Gibt es nicht vielleicht doch einen Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und musikalischer Bildung?
Ich glaube, dass sich Menschen gegenseitig bereichern können, egal, welche Geschichte oder welchen Hintergrund sie haben. Wie vorhin gesagt: In der Musik geht es um das Leben. Und je mehr Kontakt wir mit der Welt haben, die uns umgibt, desto besser wächst das Verständnis für ein Miteinander.

Bei dieser Begegnung mit der »echten« Welt könnte womöglich Ihr geplantes Blasmusikprojekt helfen. Bitte vervollständigen Sie den folgenden Satz:
Sir Simon passt zu Blasmusik wie…
… eine Ente zu Säure!
Ich habe nach einem Projekt gesucht, das mir ganz eigennützig helfen würde, Bayern besser zu verstehen. (Lacht) München und Berlin sind so unterschiedlich, wie zwei Städte in einem Land nur sein können. In Berlin war es das Tanzen, mit dem wir eine Brücke schlagen wollten, hier ist es die Blasmusik. Und als mir die Musiker*innen erzählten, welche tiefe Bedeutung sie kulturell für die Menschen hat, erinnerte mich das an meine Jugend in Nordengland, wo ich viel in Brass-Bands gespielt habe. Die meisten britischen Musiker*innen kommen aus dieser Tradition, das hört man ganz deutlich. Und hier ist es ähnlich. Das kommt mir wie eine faszinierende Reise vor, wenn so viele unterschiedliche Menschen aus allen Teilen Bayerns aufeinandertreffen, die dieselbe Sprache sprechen, die sich verstehen.
Ich bin gespannt, wohin sich diese Reise mit dem tollen Titel »Symphonischer Hoagascht« entwickelt. Und, Gott bewahre, mein Deutsch ist ja schon primitiv… Wie ich erst mit dem bayerischen Dialekt klarkommen soll: keine Ahnung!
Mit einem herzlichen »Servus« kommt man hier manchmal schon sehr weit.
Servus, genau. Und dann einfach weise nicken…