Lebensdaten des Komponisten
31. Januar 1797 in der Wiener Vorstadt Himmelpfortgrund – 19. November 1828 in der Vorstadt Wieden bei Wien
Entstehungszeit
April 1816
Uraufführung
Vermutlich 1816 im Wiener Schottenhof durch das Liebhaberorchester von Otto Hatwig, in dem Schubert Bratsche spielte.
Erste öffentliche Aufführung
19. November 1849 durch das Orchester der Musikgesellschaft »Euterpe« in Leipzig unter der Leitung von August Ferdinand Riccius
Das Werk beim BRSO
Erstaufführung: 14./15. Februar 1963 unter der Leitung von Rafael Kubelík
Weitere Aufführungen: 1977 mit Bernard Haitink, 2001 mit Lorin Maazel und 2005 mit James Conlon
Zuletzt auf dem Programm: 2015 mit Riccardo Muti
Streng, beinahe unerbittlich muten uns heute die Worte von Johannes Brahms an, der für die erste Schubert-Gesamtausgabe die Edition der Symphonien betreute. Im März 1884 schrieb er an den Verlag Breitkopf & Härtel: »Allzu ängstlich habe ich nicht revidiert, da die Sachen ungemein einfach und klar sind […]. Daß ich keine besondere Freude habe, den Druck dieser Sinfonien zu besorgen, habe ich Ihnen nicht verhehlt. Ich meine, derartige Arbeiten oder Vorarbeiten sollten nicht veröffentlicht werden, sondern nur mit Pietät bewahrt und vielleicht durch Abschriften Mehreren zugänglich gemacht werden. Eine eigentliche und schönste Freude daran hat doch nur der Künstler, der sie in ihrer Verborgenheit sieht und – mit welcher Lust – studiert!«
Auch wenn sich das Diktum der Leichtgewichtigkeit der frühen Schubert-Symphonien lange gehalten hat und es ohne Zweifel eine stilistische Zäsur zwischen ihnen, also den Symphonien eins bis sechs (entstanden zwischen 1813 und 1816) und den späteren einsamen Meisterwerken, der Unvollendeten (1822) und der Großen C-Dur-Symphonie (1825/1826), gibt, würde sich Brahms’ Urteil heute wohl kaum mehr einer anschließen. Und wahrscheinlich sagt es mehr über Brahms’ kompositorische Selbstreflexion aus als über Schuberts frühe Symphonien. War Brahms von übergroßen Skrupeln gegenüber seinen eigenen frühen Kompositionen (die er zu weiten Teilen vernichtete) und dem durch Beethoven erhobenen Anspruch der Gattung Symphonie (der ihn fast 15 Jahre ringen ließ, bis er seinen symphonischen Erstling vollendete) geplagt, bewegte sich der junge Schubert weitgehend im Stand der »kompositorischen Unschuld« (Hans-Joachim Hinrichsen). Das Komponieren ging ihm mühelos von der Hand, und sein schöpferischer Geist war so frei, so unbelastet und experimentierfreudig, dass er sich ganz selbstverständlich in nahezu allen wichtigen Gattungen erprobte.
Ob ihm die Symphonien Beethovens ab der Dritten zu jener Zeit bereits vertraut oder gar bewusster Orientierungspunkt waren, ist fraglich, wichtiger erscheint, dass seine symphonischen Anfänge in einem gänzlich anderen Kontext standen. So waren seine frühen Symphonien nicht für die große Öffentlichkeit gedacht, sondern entstanden für den unmittelbaren Gebrauch in Ensembles, in denen Schubert selbst musizierte: das Orchester des Wiener Stadtkonvikts und das Liebhaberorchester des Wiener Burgtheater-Geigers Otto Hatwig. Vor allem seiner Zeit als Schüler des Stadtkonvikts, in dem »der Abend täglich der Aufführung einer vollständigen Sinfonie u. einiger Ouvertüren gewidmet« war, verdankte Schubert eine breite Kenntnis des Orchesterrepertoires. Von Haydn und Mozart besaß man »über dreißig Sinfonien«, aber auch Werke von Pleyel, Krommer, Rosetti, Romberg, Weigl, Spontini und Cherubini wurden gespielt, von Beethoven sind Aufführungen der Zweiten Symphonie belegt. Der Umgang mit den wichtigen Werken des symphonischen Repertoires war für Schubert also alltägliche Übung und musste seinen eigenen Schaffensdrang auf diesem Gebiet zwangsläufig anregen.
Suche nach dem eigenen Weg
Allein die Vierte Symphonie, niedergeschrieben in weniger als 30 Tagen im April 1816, scheint unter den frühen Symphonien eine gewisse Sonderstellung einzunehmen. Nach den konventionellen Tonarten D-Dur und B-Dur der ersten drei Symphonien wählte Schubert erstmals eine Moll-Tonart – noch dazu das in seinem Affekt durch die Tradition besonders festgelegte c-Moll –, und er führt dieses c-Moll mit seiner bis dahin gewichtigsten langsamen Einleitung (Adagio molto) emphatisch ein. Zudem versah er die Symphonie eigenhändig mit dem Titel Tragische, was von vornherein besondere Erwartungen weckte. War die Vierte also doch als ein Reflex auf Beethoven zu deuten, als ein Dokument der Verunsicherung oder des Versuches, einen Platz neben dem berühmten Zeitgenossen und dessen c-Moll-Symphonie, der Fünften, zu beanspruchen? Bei genauerem Hinsehen erscheint dies wenig wahrscheinlich. Vieles spricht dafür, dass sich Schubert erst ab 1817 vertieft mit der neueren Beethoven’schen Instrumentalmusik auseinandersetzte, 1819 etwa fertigte er eine (unvollständige) Abschrift von dessen Vierter Symphonie an.
Zugleich beginnt dann die Zeit, die von der Schubert-Forschung als »Jahre der Krise« bezeichnet wird. Auf den Mai 1818 datiert das erste seiner symphonischen Fragmente. Sein bis dahin so unbeschwertes und zügiges Schaffen gerät ins Stocken, zahlreiche Werke bleiben unvollendet, unter ihnen solche, die der Nachwelt als Schöpfungen höchster Vollendung gelten, wie die h-Moll-Symphonie, die Unvollendete, oder der Quartettsatz in c-Moll (D 703). Erst jetzt scheint Schubert ein erhöhtes Problembewusstsein und die Notwendigkeit einer kompositorischen Selbstvergewisserung neben Beethoven zu verspüren. Dabei ging es ihm weder um ein Nacheifern noch um ein Messen der Kräfte, beides hätte Schuberts Naturell völlig fern gelegen. Das Suchen jener Jahre führte vielmehr zu einer noch klareren Profilierung seines eigenen, ganz anderen Weges.
Unruhe und Anspannung
Für die Frage jedenfalls, warum Schubert 1816 eine »tragische« Symphonie in c-Moll schrieb, scheinen andere Erklärungen näherliegend als der Blick auf Beethoven. Ganz einfach gesprochen, war für einen ambitionierten jungen Komponisten, der sich im Kanon der Wiener Klassik bewegte, ein Moll-Werk Teil des Gattungsspektrums. Schon Haydn und Mozart, aber auch andere Wiener Komponisten wie Vanhal, Dittersdorf oder Gassmann hatten damit experimentiert. Und wie sich bei ihnen der Moll-Charakter mit einem erhöhten Erregungslevel verband (weswegen man diese Werke mit dem Phänomen des »Sturm und Drang« erklärt hat), so arbeitet auch Schubert in der Vierten mit den bewährten Mitteln der Unruhe und Anspannung. Die Hauptthemen der Ecksätze sind nervöse, vorwärtstreibende Gebilde über pulsierenden Begleit-Tremoli, und immer wieder werden – vor allem im Kopfsatz (Allegro vivace) – Überleitungspassagen mittels Synkopen, fortdauernder Tremoli und scharfer dynamischer Akzente dramatisch aufgeladen. Auch der Allegro-Schlusssatz (alla breve) gibt sich aufgewühlt: Hier erzeugen das ungestüme Thema und eine nahezu ununterbrochen durchlaufende Schicht von Achtelfiguren einen rastlosen motorischen Strom, der selbst das Seitenthema mit in seinen Strudel reißt. Von »lodernder Leidenschaftlichkeit« sprach der begeisterte Rezensent der Neuen Zeitschrift für Musik nach der ersten öffentlichen Aufführung der Vierten 1849 in Leipzig, und Wolfram Steinbeck resümiert im Schubert-Handbuch, dass vor allem dieses Finale »dem c-Moll-Charakter des Werkes« angemessen sei.
Kunst des Verweilens
Eher konventionell, dem gängigen Bedürfnis nach einem feierlichen, jubelnden Abschluss folgend, sind in beiden Ecksätzen die Übergänge in die Dur-Tonart gestaltet. Hier gibt es keinen spektakulären Durchbruch, keinen zwingenden dramaturgischen Plan wie bei Beethoven. Auch die konfliktlosen Durchführungen beider Sätze zeigen Schubert weit von Beethoven entfernt, im Kopfsatz ist sie kaum mehr als ein kurzes Zwischenspiel. Konzentrierte thematische Arbeit und Prozesse sind nicht sein oberstes Interesse, vielmehr offenbart sich in dieser Vierten Symphonie schon ein anderes: Schuberts Kunst des Verweilens, des selbstvergessenen Wiederholens und Schweifens durch immer neues harmonisches Licht.
Das Seitenthema des rastlosen Finalsatzes ist eine jener Eingebungen – ein fallendes Intervall, kaum mehr als eine Geste des Seufzens –, von denen Schubert sich kaum trennen kann und die er in Abwandlungen immer weiter und weiter reicht. Besonders poetisch kommt dieses Prinzip im Andante zur Erfüllung. Ein kantabler A-Teil (As-Dur) mit periodisch gebautem Lied-Thema wird von einem bedrohlich einbrechenden B-Teil (f-Moll) mit schroff auffahrenden Tonskalen kontrastiert. Doch schon nach wenigen Takten bricht die bedrohliche Musik zusammen, ein zartes Dreitonmotiv mit Sekundseufzer schält sich aus den Skalen heraus, die Beleuchtung wechselt, und es entspinnt sich ein zartes Gewebe, das nur noch den Zauber dieser Töne kennt und den Hörer fast aus der Zeit treten lässt. Wollte man in Schuberts Vierter Symphonie unbedingt den Einfluss Beethovens suchen, so wäre er am ehesten im dritten Satz zu finden. Schubert überschreibt ihn wie Haydn und Mozart mit Menuetto, doch ist er mit seiner metrischen Widerborstigkeit und seinem raffinierten Spiel mit »falschen« Betonungen und Phrasierungen ein Scherzo im Geiste Beethovens – ähnlich dem in dessen Vierter Symphonie.
Der ganze Ernst der Gattung
Ist die Vierte nun eine »tragische« Symphonie? »An eine tragische würde man ganz andere Ansprüche machen«, schrieb Robert Schumann. Vielleicht sollte man Schuberts Namensbeifügung aber gar nicht allzu viel Bedeutung beimessen. Mag sein, dass er damit nur den Moll-Charakter und das Gewicht des Werkes unterstreichen wollte. Vielleicht spielte er auch auf den pathetischen Ton des Musiktheaters an, auf die tragischen, ernsten Stoffe, wie er sie bei Gluck fand, dessen Opern er besonders schätzte und immer wieder zum Studium heranzog. Ein Hinweis darauf, dass Schubert seine Vierte – auch ohne konkrete Aussicht auf eine Aufführung in der großen Öffentlichkeit – mit dem ganzen Ernst der Gattung und auf der Höhe seines Könnens konzipierte, ist der Titel Tragische allemal.
Das Prädikat »Jugendwerke« jedenfalls wurde seinen frühen Symphonien erst von der kategorisierungsbedürftigen Nachwelt angehängt. Aber das Kunstwerk wird nicht in Kategorien geschaffen, sondern ist immer ein individuelles Einzelstück. Und so ist auch die Serie der frühen Symphonien, wie Hans-Joachim Hinrichsen treffend festhält, »stilistisch […] nicht aus einem Guss«. Schubert erprobte verschiedene Möglichkeiten der Gattung. Dass er die Form dabei von Anfang an souverän anging, lässt sich kaum leugnen. Und wahrscheinlich wurden seine frühen Symphonien nur deswegen weniger beachtet, weil ihnen die Unvollendete und die Große C-Dur-Symphonie nachfolgten. »Im Rahmen der Produktion der Zeit«, schrieb der Schubert-Forscher Arnold Feil, sind sie »allemal Meisterwerke – Rätsel des Genies.«