Lebensdaten des Komponisten
23. Februar 1685 in Halle – 14. April 1759 in London
Entstehungszeit
Anfang 1707 im Auftrag von Benedetto Pamphilj
Uraufführung
Spätestens am 11. Februar 1707 im Palazzo Doria-Pamphilj in Rom
Das Werk beim BRSO
Erstaufführung
Früh schon hatte Händel die Weichen für eine glänzende Karriere gestellt. Zunächst im Opernhaus am Hamburger Gänsemarkt tätig, begab er sich irgendwann im Jahre 1706 in das Eldorado der Musik – nach Italien. Im Januar 1707 sorgte er in Rom für Aufsehen. Berichten zufolge habe er am Cembalo und an der Orgel so unglaublich gespielt, dass manche Hörer argwöhnten, da seien Hexerei und der Teufel im Spiel gewesen. Dass ein Lutheraner, mithin ein Ketzer, überhaupt an der Orgel von San Giovanni in Laterano, der Basilika des Papstes, sitzen durfte! Dies verdankt sich wohl nur Benedetto Pamphilj, Erzpriester dieser Kirche und einer der mächtigsten Kardinäle Roms. Neben dem Marchese Ruspoli, waren es vor allem diese kunstliebenden Purpurträger, die sich um den jungen Tastenzauberer bemühten. Tolerant und freizügig, kultiviert und sinnenfroh: Mit ihrem Lebensstil würden sie in einen Fellini-Film passen.
Dem Kardinal Pietro Ottoboni sagte man etwa nach, »er lasse seine Beyschläfferinnen als Heilige malen und in sein Schlafzimmer hängen«. Auch Pamphilj war sicher kein Kind von Traurigkeit, aber pikante Details über ihn sind nicht überliefert. Es heißt, er habe sich nach Möglichkeit »gehütet, durch ärgerliche Ausschweifungen seinen guten Namen zu verletzen.« Vielleicht hatte er homosexuelle Neigungen, auf jeden Fall war er in den damals sehr attraktiven Händel geradezu vernarrt: »Ein hübscher Jüngling / weckt Entzücken / mit verlockendem Klang«, dichtete er in seinem von Händel vertonten Oratorium Il trionfo del tempo, und der Kontext lässt keinen Zweifel, dass damit der Komponist gemeint ist, der in dieser Arie ein Orgelsolo spielen sollte. Auch in seinem Kantatentext Hendel, non può mia musa raspelte Pamphilj, Händel noch über Orpheus stellend, eine Menge Süßholz.
Die römische Hocharistokratie war geradezu süchtig nach Musik, und da der Papst die angeblich sündhafte Oper verboten hatte, fungierten Oratorien und weltliche Kantaten als Ersatzdrogen. Eine »Cantate ist eigentlich ein langes Music=Stück, dessen Text Italiänisch und aus Arien mit untermischten Recitativ, (…) und gemeininglich à voce sola nebst einem Continuo bestehet, öfters aber auch mit zwey und mehrern Instrumenten versehen ist.« In dieser Form, wie sie ein Musiklexikon von 1732 definiert, konnte man sich tatsächlich ein Stückchen Oper nach Hause holen. Die Kardinäle luden wöchentlich zu Privatkonzerten: die örtliche High Society, aber gerne auch berühmte Künstler und hohe ausländische Gäste. Da ließ es sich bei Eis und Likör, Caffè und Confect trefflich plaudern. Dolce Vita also. Allerdings, und das ist der Unterschied zu Fellini, herrschte während der Musik Stille: »Die hitzigen Italiener verdrehten zwar alle Augenblick die Augen und alle Glieder vor Admiration«, aber – so berichtet ein deutscher Gast – sie lauschten »in solcher Attention und Entzückung, dass man auch eine Fliege hätte fliegen hören.«
Queere Spiele
Fast 100 Kantaten hat Händel für derartige Anlässe komponiert. Die wohl erste in Rom war Delirio amoroso, laut Pamphiljs Buchhaltung spätestens am 11. Februar 1707 aufgeführt. Der Text stammt von dem schreibfreudigen Kardinal selbst. Wie viele Kantaten spielt auch diese im mythischen Arkadien, wo Schäferinnen und Schäfer ganz für die Liebe gelebt haben sollen. Meist unglücklich, aber gerade das bot der Musik viele Möglichkeiten für den Ausdruck starker Affekte. So litt Clori an der unerwiderten Liebe zu Tirsi, und nach dessen Tod steigert sie sich gar in eine Wahnvorstellung hinein: Sie glaubt, in das Totenreich zu wandern, um Tirsi da herauszuholen – obwohl der doch die Hölle verdient hat! Clori stürzt in ein Wechselbad der Gefühle. Die Geschichte erinnert an den Mythos von Orpheus und Eurydike, wobei hier jedoch die Frau die aktive Rolle übernimmt. Die Geschlechterordnung geriet durch die ursprüngliche Besetzung sogar noch mehr durcheinander: Ein Kastrat sang die Clori! Die Römer liebten solche queeren Spiele, und die Touristen staunten: »Die Kastraten sind so geübt, Frauenrollen zu singen, dass sie keine Sängerin darin übertrifft. Ihre Stimme ist so weich wie die einer Frau, aber dabei viel stärker, ja sie sehen sogar auf der Bühne hübscher aus!«
Elysische Gefilde und französische Ouvertüre
Für Delirio amoroso hatte Pamphilj den jungen Starsänger Checchino engagiert, der offenbar über eine phänomenale Technik und starke Ausdruckskraft verfügte. Händel gab ihm Möglichkeit, sein ganzes Potenzial zu zeigen. Und er hatte gleich drei herausragende Instrumentalsolisten zur Verfügung, was der Kantate ein besonders üppiges, farbenreiches Gepräge verleiht. Sie ist geradezu ein hybrides Gebilde aus vokalen und instrumentalen Gattungen, die Händel ingeniös gemischt hat. Es beginnt mit einem Konzertsatz für Oboe, ein Instrument, das der Spieler Ignazio Rion in Rom gerade erst in Mode gebracht hatte. Die erste Arie Un pensiero voli in ciel ist zugleich ein Konzertsatz für den Violinvirtuosen und Corelli-Schüler Antonio Montanari. Lange, blitzende Ketten von Triolen illustrieren den auffliegenden »Gedanken«, und auch die Singstimme folgt diesen eher geigerischen Koloraturen auf leichten Flügeln. Die zweite Arie Per te lasciai la luce gehört zu jenen großen, ergreifenden Klagegesängen Händels, die selbst standardisierte Opernfiguren in ihrem Schmerz zum Leben erwecken. Das Solocello läuft neben Clori her wie ein Schatten, wohl ein Bild des noch im Totenreich unerreichbaren Tirsi.
Die Blockflöte illustriert in Lascia omai le brune vele dann den sanften Frühlingswind Zephyr, der Tirsi in die Elysischen Gefilde bringen soll. Diese hellst beschwingte, ungemein klangsinnliche Arie hat Händel, wissend um ihren Zauber, mehrfach wiederverwertet. Der Schluss birgt dann noch eine Überraschung: Die Entrée, eine kleine französische Ouvertüre, und das Minuet bilden so etwas wie eine Mini-Suite. Das Elysium liegt offenbar in Frankreich. Eine Hommage an einen französischen Gast oder gar ein politisches Statement, wie die Musikwissenschaftlerin Ellen Harris vermutet? Oder einfach eine Aufforderung zum Tanz? Auf jeden Fall ist Händels erlesene, verschwenderisch ausgestattete Kantate der unglaublichen Pracht des Palazzo Doria-Pamphilj würdig. Aber niemand außer Pamphiljs Gästen hat sie jemals zu hören bekommen. Das ist heute zum Glück anders!