Lebensdaten des Komponisten
12. (25.) September 1906 in St. Petersburg – 9. August 1975 in Moskau
Entstehungszeit
Frühjahr bis Oktober 1939
Uraufführung
21. November 1939 in Leningrad unter der Leitung von Jewgenij Mrawinskij
Das Werk beim BRSO
Erstaufführung: 18. April 1980 im Herkulessaal unter Krzysztof Penderecki
Weitere Aufführungen unter Rolf Reuter, Myung-Whun Chung, Kurt Sanderling und Mariss Jansons
Zuletzt auf dem Programm: März und August 2013 unter Mariss Jansons im Herkulessaal, in Luzern, Amsterdam, Moskau, Hamburg und Salzburg
Dmitrij Schostakowitschs glanzvolle Karriere, die 1925 mit der Uraufführung der Ersten Symphonie auch aus internationaler Perspektive spektakulär begonnen hatte, erfuhr Anfang 1936 ein jähes Ende, als in zwei redaktionellen Artikeln der Prawda seine Oper Lady Macbeth von Mzensk und sein Ballett Der helle Bach einer prinzipiellen Kritik unterzogen wurden. Diese Maßnahme, von der man vermutet, dass sie auf Stalin selbst zurückging, war eine Warnung an die Adresse aller sowjetischen Künstler, zumal jener, die sich internationaler Reputation erfreuten. Schostakowitschs Werke verschwanden sofort von allen Spielplänen und Programmen; er wurde zum Ausgestoßenen. Mit seiner Fünften Symphonie, uraufgeführt 1937 im Rahmen der Feierlichkeiten zum Jahrestag der Oktoberrevolution, wurde er rehabilitiert und stieg erneut zum ersten Komponisten seines Landes auf. Die offizielle und öffentliche Maßregelung Schostakowitschs sowie seine Wiederaufnahme in den Kreis der sowjetischen Künstler vollzog sich während des so genannten Großen Terrors, dem die alten Eliten des Militärs und der Partei, ehemalige Großbauern, nicht zur Anpassung bereite Künstler und zahllose unbescholtene Sowjetbürger zum Opfer fielen. Man schätzt ihre Zahl auf etwa 1,5 Millionen.
Vor diesem Hintergrund ist es nicht erstaunlich, dass Schostakowitsch sich als Komponist zurückhielt. Er, der stets überaus produktiv arbeitete und mehrere Opera im Jahr fertigstellte, verstummte geradezu: Die Vierte Symphonie, noch vor den Prawda-Artikeln begonnen, zog er zurück; sie wurde erst 1961 uraufgeführt. In den knapp drei Jahren vom Erscheinen der beiden Prawda-Artikel bis zur Vollendung der Sechsten Symphonie entstanden – neben der Fünften Symphonie – Gebrauchswerke, die dem Komponisten und seiner Familie den Lebensunterhalt sicherten, darunter eine Schauspielmusik zu dem politischen, auf den spanischen Bürgerkrieg bezogenen Stück Salut an Spanien und Musik zu sieben Filmen, die alle die sowjetische Weltanschauung propagieren. Ernsteren künstlerischen Anspruch erheben allein vier Puschkin- Vertonungen, deren äußerer Anlass der 100. Todestag des Dichters war, und das Erste Streichquartett.
In die Zeit, in der Schostakowitsch an der Sechsten Symphonie arbeitete, fällt die Verhaftung des Regisseurs Wsewolod Meyerhold, mit dem Schostakowitsch in den 1920er Jahren zusammengearbeitet hatte und dessen Name im Prawda-Artikel gegen Lady Macbeth genannt wurde. Er wurde am 20. Juni 1939 inhaftiert und am 2. Februar 1940 hingerichtet. Während der Arbeit an der Symphonie schlossen Hitler und Stalin einen Nichtangriffspakt (datiert vom 23. August 1939). Dies war die Voraussetzung für den deutschen Überfall auf Polen am 1. September 1939 und den Beginn des Zweiten Weltkriegs. Die taktische »Freundschaft« der beiden Diktatoren, besiegelt im Deutsch-Sowjetischen Grenz- und Freundschaftsvertrag vom 28. September 1939, führte dazu, dass Propaganda gegen Deutschland, gegen den deutschen Faschismus, wie man in der Sowjetunion den Nationalsozialismus nannte, fortan unterblieb und dass Sergej Eisenstein am Bolschoj-Theater Wagners Walküre inszenieren musste.
Diese Zeitläufe spiegeln sich in Schostakowitschs Sechster Symphonie wider, auch wenn er davon nicht sprach. In der sowjetischen Presse der Zeit ist von Plänen zu einer Oper, einem Ballett, einer Operette nach dem satirischen Roman Zwölf Stühle von Ilja Ilf und Jewgenij Petrow die Rede. Ein Jahr zuvor, im September 1938, hatte er in zwei kleinen Artikeln bekanntgegeben, dass er an einer großen Symphonie für Chor, Solisten und Orchester arbeite, die dem Andenken Lenins gewidmet sein solle. Schostakowitsch hat in den folgenden Jahren mehrfach öffentlich über den Plan zu einer Lenin-Symphonie gesprochen. Die Frage, ob es ihm ernst war mit dem Projekt oder ob er die Presse bewusst ungenau informierte, um unbehelligt arbeiten zu können, muss offen bleiben. Erst die Zwölfte, 1961 vollendete Symphonie mit dem Titel Das Jahr 1917 ist »dem Andenken an Wladimir Iljitsch Lenin« gewidmet.
Am 28. August 1939, zu einem Zeitpunkt, als das Konzept einer Symphonie ohne Programm und ohne Soli und Chor längst feststand, gab Schostakowitsch in der Leningradskaja Prawda bekannt, die neue Symphonie werde sich »in der Stimmung und im emotionalen Tonus von der Fünften Symphonie unterscheiden, für die Momente der Tragik und der Anspannung charakteristisch waren. In der neuen Symphonie überwiegt Musik mit nachdenklicher, lyrischer Haltung. Ich wollte Stimmungen des Frühlings, der Freude, der Jugend ausdrücken.«
Eine Symphonie ohne traditionellen Kopfsatz
Die Presse reagierte ratlos. In dem dreisätzigen, mit einer Spieldauer von einer halben Stunde eher bescheidenen Werk vermisste man zyklische Einheit, thematische oder motivische Gedanken, die zwischen den drei Sätzen eine innere Vermittlung herstellen und eine geradlinige Deutung zulassen würden. »Der Glanz und die erlesene Orchestrierung konnten das Fehlen einer geschlossenen symphonischen Konzeption nicht verbergen«, lautete ein Kommentar. Zweifellos fehlt der Sechsten eine herkömmliche »geschlossene symphonische Konzeption«, doch man sollte darin keinen ästhetischen Mangel erblicken, sondern davon ausgehen, dass Schostakowitsch diese Disparatheit beabsichtigt hat. Die Satzfolge Largo, Allegro-Scherzo im 3/8-Takt und Presto-Finale legt den Gedanken an eine viersätzige Symphonie ohne Eingangs-Allegro nahe – eine »Symphonie ohne Kopf« hieß es denn auch in den Kritiken. Nach der klassischen Tradition, der Schostakowitsch in vielen Werken folgte, ist der erste Satz ein Ort intellektueller Auseinandersetzung: In den Themen der Exposition wird ein Konflikt formuliert, der in der Durchführung diskutiert und in der Reprise gelöst wird. In dieser Symphonie verzichtete Schostakowitsch darauf – angesichts von Massenverhaftungen, Schauprozessen, Deportationen und Hinrichtungen hatten vernünftige Argumente ihren Sinn verloren.
Trauermarsch und Arabesken
Im formalen Aufbau der drei Sätze erweist sich das »Fehlen einer geschlossenen symphonischen Konzeption« als Gestaltungsprinzip. Das Largo beginnt mit einer ausgedehnten, durchweg im Forte-Fortissimo vorgetragenen Kantilene, die sich aus mehreren markanten Motiven zusammensetzt: einer Trauermarschfigur mit punktiertem Rhythmus und anschließender Oktave, einem Triolenmotiv, einer expressiven Achtelkette und einer Kadenzformel mit fallender verminderter Septime und abschließendem Triller. Ein neuer Abschnitt, leise in den Streichern einsetzend, kontrastiert zum Anfang des Satzes allein durch die Umstellung der Motive. Ein dritter Abschnitt mit wiederum den gleichen Motiven in neuer Reihenfolge gipfelt in einer Trillerkette, zu der in den Posaunen und in der Pauke der Trauermarschrhythmus erklingt. Es folgt ein Ruf- oder Signalmotiv im Englischhorn und in den Posaunen, das in eine Passage mit Reminiszenzcharakter überleitet – in einen zarten Dialog zwischen Flöte und Fagott, der von den Streichern, später vom Orchestertutti aufgegriffen wird. Das Signalmotiv kehrt wieder (in den Klarinetten), dann schließt sich eine ausdrucksvolle Melodie der Oboe an, auf die das Englischhorn antwortet. Vielleicht sind dies die »Stimmungen der Jugend«, von denen Schostakowitsch sprach.
Der Trillerorgelpunkt in den tiefen Streichern, der hier durchweg zugrunde liegt, weist auf die Oper Lady Macbeth zurück. Dort erklingt er, wenn die Titelheldin sich ihrer grausigen Morde bewusst wird und den Freitod wählt. Dieser Orgelpunkt bleibt auch erhalten im zentralen Abschnitt des Satzes, einer großen, orientalisch anmutenden Arabeske der Flöten, die so instrumentiert ist, dass man meint, eine einzelne Flöte spiele eine endlose Kette von Figurationen. Daran schließen sich verhaltene Dur-Dreiklänge und ein langsamer Trauermarsch-Rhythmus im Horn an. Auch die Arabesken der Flöten mögen Sinnbild eines wehmütigen Rückblicks auf glücklichere Zeiten sein. Der Satz endet mit einer knappen Reprise der Anfangsmotive.
Brutaler Tanz
Im Scherzo erblickten die Rezensenten der Uraufführung »viel Glanz, der aber kalt und äußerlich bleibt«. Dieser Eindruck kann durch das unspezifische motivische Material entstehen – Läufe, gebrochene Dreiklänge, Repetitionsfiguren, die allein von der Bewegung leben und überaus virtuos instrumentiert sind. Das Kontrastieren von solistischen Partien und großen Tutti-Blöcken sorgt zusätzlich für orchestrale Virtuosität. In diesem Scherzo gibt es kein Trio, stattdessen drängen sich an zwei Stellen Blech- und Schlaginstrumente mit ordinär klingenden, groben Themen in den Vordergrund. Bei der zweiten derartigen Passage wechseln die übrigen Instrumente vom 3/8-Takt in ein gerades Metrum, als könnten sie nicht Schritt halten in diesem brutalen, absurden Tanz.
Trügerische Heiterkeit
Das Finale ist formal ein schlichtes Rondo. Sein elegantes, schwungvolles Hauptthema erinnert an Gioacchino Rossini, an Jacques Offenbach, auch an die frech-verspielten Collagen in Schostakowitschs Balletten und seinem Ersten Klavierkonzert (1933). Die Rezensenten der Uraufführung attestierten diesem Satz dann auch »allgemeine Verständlichkeit« – eine nach den Kriterien des Sozialistischen Realismus zentrale Forderung. Doch die Heiterkeit oder »allgemeine Verständlichkeit« ist genauso trügerisch-doppelbödig wie im Finale der Fünften Symphonie. Das erste größere Zwischenspiel bricht aus der allgemeinen Lustigkeit aus mit einer düsteren Passage der Bassinstrumente, dann drängen sich, wie im Scherzo, grobe Blechbläserthemen in den Vordergrund. Die folgende Solo-Episode – Fagott, Flöte, Piccolo, später Solo-Violine – wirkt nachdenklich, auch unheilvoll. Man denkt an Petruschka, Till Eulenspiegel, an den Humor, der später in Schostakowitschs 13. Symphonie (1962) gleich mehrmals totgeschlagen wird. Das Rondo-Thema kehrt wieder, es verwandelt sich unversehens in einen Can-Can mit Elementen aus der Unterhaltungsmusik – keinen Widerspruch zulassend und applaustreibend. Es ist der Sound der sowjetischen Leistungsschauen der 1930er Jahre, eine »Lebensfreude«, die in einer derben, durchaus auch ordinär klingenden Musik Ausdruck findet. So gehen die »Lustigkeit« des Can-Cans und allgegenwärtige Todesangst eine Symbiose ein.
Es ist der Vorzug instrumentaler Musik, dass sie nicht explizit sagen kann, was gemeint ist. Sie lässt offen, ob der Trauermarsch im ersten Satz nicht doch auch die Erinnerung an Lenin wecken soll und das Finale in einen fröhlichen Tanz mündet oder ob der Trauermarsch den Opfern des Terrors gilt, der allumfassenden, nicht aussprechbaren Angst, und ob hinter dem lärmenden Can-Can nicht auch der Horror des Krieges aufscheint, vor dem sich Stalins Sowjetunion im November 1939 noch sicher wähnte.