Johannes Brahms: Streichquartett a-Moll, op. 51 Nr. 2
Lebensdaten des Komponisten
7. Mai 1833 in Hamburg – 3. April 1897 in Wien
Entstehungszeit
1867 bis 1873
Widmung
»Seinem Freunde Dr. Theodor Billroth in Wien zugeeignet«
Uraufführung
18. Oktober 1873 in Berlin mit dem Joachim-Quartett
Philippe Racine: Adagio für Streichquintett
Geburtsdatum des Komponisten
27. März 1958 in Basel
Entstehungszeit
2018/2019
Widmung
»À mon cher Walter pour ses quatre fois vingt ans« (»Meinem lieben Walter [Grimmer] zu seinen vier mal zwanzig Jahren«)
Uraufführung
7. März 2019 in Zürich mit dem Quatuor Yako und Walter Grimmer
Franz Schubert: Streichquintett C-Dur, D 956
Lebensdaten des Komponisten
31. Januar 1797 in Wien – 19. November 1828 in Wien
Entstehungszeit
1828
Uraufführung
17. November 1850 in Wien mit dem Hellmesberger-Quartett und Josef Stransky
Auflösung der getakteten Zeit
Johannes Brahms komponierte viel und doch wenig. Genauer gesagt, er schrieb zwar viel, veröffentlichte aber nur wenig. Schon als Zwanzigjähriger konnte er 1853 dem Ehepaar Schumann in Düsseldorf eine reiche Auswahl an Talentproben vorstellen, darunter auch Streichquartette, von denen jede Spur fehlt. Wo sind sie geblieben? Robert Schumann schilderte diesen Antrittsbesuch im Stil einer Künstlerlegende: »Am Clavier sitzend, fing er an wunderbare Regionen zu enthüllen. Wir wurden in immer zauberischere Kreise hineingezogen«, schwärmte Schumann und zählte auf, was Brahms alles mitgebracht hatte an unerhörten Werken: Klaviersonaten (»mehr verschleierte Symphonien«), Lieder, Klavierstücke (»theilweise dämonischer Natur«), Sonaten für Violine und Klavier. Und »Quartette für Saiteninstrumente«.
Wie Brahms später einem Freund verriet, habe er in jungen Jahren bereits mehr als 20 Streichquartette komponiert. Was aber ist passiert mit diesen frühen Werken? »Das Zeug ist alles verbrannt worden«, erklärte Brahms schroff und schonungslos seinem Biographen Max Kalbeck: »Die Kisten mit den alten Skripturen standen lange in Hamburg. Als ich vor zwei oder drei Jahren dort war, ging ich auf den Boden – die ganze Kammer war aufs schönste mit meinen Noten tapeziert, sogar die Decke. Ich brauchte mich nur auf den Rücken zu legen, um meine Sonaten und Quartette zu bewundern. Es machte sich sehr gut. Da hab ‹ich alles heruntergerissen – besser, ich tu‹s, als andere! – und auch das übrige mitverbrannt.«
Brahms hätte demnach mehr Streichquartette komponiert als Franz Schubert, von dem 14 vollständig überliefert sind, doch ließ er nur drei von ihnen gelten und schrieb nach dem dritten und letzten in den verbleibenden gut 20 Jahren bis an sein Lebensende kein einziges mehr. Mit den beiden unter der Opuszahl 51 vereinten Streichquartetten in c-Moll und a-Moll war er ab Mitte der 1860er-Jahre befasst. Und ließ sich zumindest von den engsten Freunden und Vertrauten, auf deren Rat er hörte, in die Karten schauen. »Johannes brachte mir dieser Tage zwei wunderschöne Quartettsätze«, vermerkte Clara Schumann am 10. Juni 1869 in ihrem Tagebuch, »1er und letzter Satz, der Letzte besonders gelungen, höchst geist- und schwungvoll. Am ersten wünschte ich Einiges anders nach meinem Gefühl – vielleicht ändert er es noch, da es ihm selbst noch nicht ganz recht zu sein schien.« Clara Schumann hatte offenbar die Ecksätze des Streichquartetts op. 51 Nr. 2 in a-Moll kennengelernt.
Aber Brahms blieb noch jahrelang unzufrieden mit seinen beiden Quartetten, bis er sie schließlich 1873 während eines Kreativurlaubs in Tutzing vorläufig vollenden konnte. In seinem eigenhändigen Werkverzeichnis findet sich der vage Eintrag »(Herbst 73 erschienen) angefangen früher« und der vielsagende Hinweis »zum 2ten Mal geschr[ieben] Tutzing Sommer 1873«. In dieser Zeit fuhr Brahms mehrmals nach München, um die Stücke im Haus des Hofkapellmeisters Hermann Levi praktisch erproben zu lassen und den Klang, den Effekt, die Spielbarkeit zu überprüfen – erst danach schickte er sie an seinen Verleger.
Brahms widmete das Opus 51 seinem Freund und Landsmann, dem in Wien lehrenden Chirurgen und passionierten Quartettspieler Theodor Billroth. Allerdings glaubte Max Kalbeck, in den Anfangstakten des a-Moll-Quartetts das Tondenkmal noch einer anderen Freundschaft zu erkennen, indem er aus den Noten a – f – a – e der Ersten Violine eine Doppeldevise herauslas: das Lebensmotto von Brahms, »frei, aber froh« (f – a – f), und den Leitspruch des Geigers Joseph Joachim, »frei, aber einsam« (f – a – e). Doch wirkt diese symbolische Entzifferung einigermaßen konstruiert, zumal das Brahms-Motto erst umgestülpt werden müsste, um in das melodische Initium zu passen. Jedenfalls spielte Joachim am 18. Oktober 1873 in der Berliner Singakademie die Uraufführung des Quartetts, obgleich ihm sein alter Freund Brahms ziemlich undiplomatisch geschrieben hatte: »Eigentlich habe ich von beiden [Quartetten] nicht gemeint, daß sie für Deine Geige seien.«
Aber »für die Geige« sind sie allemal, namentlich das zweite, zwischen a-Moll und A-Dur wechselnde und changierende Quartett: für die beiden Violinen, die Viola, das Violoncello, die Brahms in weiten, elegischen Kantilenen ausschwärmen und in immer neu kombinierten Duos und Trios schwelgen lässt. Die leuchtenden, fahlen, glühenden, satten Farben, ohnehin der auffallend sensualistische Zug dieser Musik wird noch vertieft durch die rhythmische Doppeldeutigkeit, wenn sich die getaktete Zeit auflöst in dem reizvollen Verwirrspiel aus langen Noten, Triolen, Achtelketten und Synkopen, alles zugleich und alles ungleich, ineinander und gegeneinander, mitunter wie zu Mustern und Arabesken verflochten.
Obendrein setzt Brahms auf die »couleur historique«, die Anklänge an archaisches Musizieren, etwa einer Musette mit ihren charakteristischen »liegenden« Borduntönen oder einer Sarabande mit ihren trotzigen Gegenakzenten. Doch liebt Brahms die Kontraste, den Aufbruch in die rhapsodische Freiheit und den Absprung in ein luftiges, flüchtiges »Elfenscherzo« à la Mendelssohn. Das Quartett durchläuft verlockend ferne und fremde Sphären, »wunderbare Regionen«, und probiert dabei die verschiedensten Tonfälle aus, balladeske, liedhafte, erzählerische, ungarische, hymnische. Hingegen mag Brahms keine Simplizität, keine aufgeräumten Formen: Sobald wir nicht mehr wissen, wo wir uns gerade befinden, welche Taktart gilt, welche Stimme die Haupt- und welche die Nebensache ist – dann haben wir seine Musik richtig verstanden.
Der nahe und der ferne Freund
Die Frage bleibt offen, ob Brahms sein Quartett nicht doch für Joseph Joachim schrieb. Dagegen besteht nicht der geringste Zweifel, dass Philippe Racine sein Adagio aus dem Jahr 2019 für einen Freund, den Schweizer Cellisten, Quartettgründer und verehrten Lehrer Walter Grimmer komponierte: »Es sollte im Konzert vor dem großen Streichquintett in C von Schubert gespielt werden. Was für eine Geschichte! Was für einen Hügel würde ich neben dem Himalaya der Kammermusik gebären?« Racine empfindet es als Motivationsschub, für Menschen zu schreiben, »deren Musikalität und Können ich bewundere«. In diesem Fall aber, mit der Herausforderung, eine Art Prolog oder Introduktion zu Schuberts Quintett zu wagen, sei er einfach froh gewesen, »überhaupt eine Note aufs Papier zu bringen«. Doch Racine wusste, »welche wunderbaren Interpreten diese Noten verteidigen würden«.
Die Distanz zu Schuberts 1828 entstandenem Streichquintett scheint für einen zeitgenössischen Komponisten wie den 1958 in Basel geborenen Philippe Racine enorm, wenn nicht gar unüberwindlich. Und dennoch ist der vor bald 200 Jahren gestorbene Wiener Kollege kein Fremder, keine entrückte Legende. »Mein Verhältnis zu Schubert«, verrät Racine: »Sehr ehrfürchtig, aber auch sehr nah. Also geradezu freundschaftlich. Oft möchte ich ihn bei mir haben, nur um ihn zu trösten!« Philippe Racine hat als Flötist das klassische Repertoire ergründet, sich jedoch immer auch für die Moderne begeistert, als Gast im Centre Pompidou / IRCAM in Paris oder mit der Band »Fusion« beim Jazz-Festival in Montreux. In seinen eigenen Kompositionen erkundete er die französische Lyrik von Paul Éluard und Guillaume Apollinaire ebenso wie den Sternenhimmel in seinem Klavierzyklus Des Astres. Sein Violinkonzert Promenade wurde beim Schweizer Lucerne Festival uraufgeführt; Heinz Holliger dirigierte sein großes Orchesterwerk Des Amours.
Auch aus seinem Adagio, obwohl es als nachgetragenes Vorwort auf Schuberts Streichquintett zielt, spricht ein Komponist des 21. Jahrhunderts. Racine denkt sich keine Musik »im alten Stil« aus, aber er nimmt die vergangene Zeit sofort beim Wort, indem er paradoxerweise mit dem Ende anfängt: mit den Schlusstrillern der beiden Celli aus dem Finale des Schubert-Quintetts. Dafür schließt er mit dem Beginn: »mit einem langen tiefen C, welches den Anfang von Schubert einleiten soll«.
Zuvor schon grüßt der C-Dur-Akkord wie von fern, ein schöner Stern, »oft filigran, einmal nur sehr explizit«. Mit den wiederholten Pizzicati spielt Racines Adagio auf Schuberts zweiten Satz, Adagio, an, folgt ihm nach und geht ihm voraus. Racines Quintettsatz ist von einer starken Sehnsucht oder Erwartung erfüllt, hochgespannt auch in der Stille, gerät immer mehr in eine Aufgeregtheit oder Aufgebrachtheit, bevor eine Kadenz für das Zweite Cello (für Walter Grimmer) mit väterlicher Autorität Einhalt gebietet und die Musik zur Ruhe bringt, ja beinah ins Grüblerische versenkt. Aber dann ertönt das tiefe C, der Übergang in ein anderes Werk, in eine andere Zeit. »Und hier betreten Sie eine neue Dimension«, schreibt Philippe Racine. Und zieht sich freundschaftlich zurück. Wir sind im Jahr 1828 angekommen, in Schuberts Todesjahr.
Die Zeit, der Schmerz, die Seligkeit
»Wissen Sie aber, wie ich es mir denke? – Der Mensch muß wieder ruiniert werden!«, sprach Goethe zu Eckermann im März 1828. »Jeder außerordentliche Mensch hat eine gewisse Sendung, die er zu vollführen berufen ist. Hat er sie vollbracht, so ist er auf Erden in dieser Gestalt nicht weiter vonnöten, und die Vorsehung verwendet ihn wieder zu etwas anderem.« Goethe nannte drei früh Verstorbene und Vollendete beim Namen, zum Beweis und Exempel: Raffael, Mozart und Byron. »Alle aber hatten ihre Mission auf das vollkommenste erfüllt, und es war wohl Zeit, daß sie gingen, damit auch anderen Leuten in dieser auf eine lange Dauer berechneten Welt noch etwas zu tun übrig bliebe.«
War es für Franz Schubert Zeit zu gehen, als er im selben Jahr 1828 das Streichquintett komponierte, sein erstes und letztes (sieht man von einer Quintett-Ouvertüre ab, die er als Sängerknabe geschrieben hatte)? Todesahnungen, ja Todessehnsucht, Weltschmerz und Erlösungsfantasien finden sich schon in den früheren Werken des jungen Franz Schubert. Mit der Diagnose einer venerischen Krankheit jedoch, mit den Schrecken der unheilvollen Heilverfahren, mit Spital und Quecksilberkur senkte sich die Finsternis auf Schuberts Musik, die schwärzeste Verzweiflung, aus der es kein Entkommen mehr gab, nur die Flucht in eine fiebrig überhitzte Produktivität oder den Traumpfad hinaus auf die andere Seite der Wirklichkeit.
Das C-Dur-Streichquintett D 956, in der von Luigi Boccherini etablierten Besetzung mit einer Bratsche und zwei Celli, hat Schubert möglicherweise schon im Juni 1828 begonnen und vermutlich im September vollendet. Und denkbar unorthodox fängt es an, dieses Quintett. Aus einer dynamisch entfalteten Akkordfolge löst sich eine kurze Melodie der Ersten Violine: eine langsame Introduktion. Oder etwa das Hauptthema? Ein rhythmischer Impuls der Bratsche treibt das Geschehen voran, ehe die Oberstimmen nacheinander mit einer sprunghaften Achtelfiguration einsetzen: Ist die Einleitung vorüber, das Hauptthema erreicht? Doch die Ereignisse fangen an sich zu überstürzen, in einem Verkürzungs- und Beschleunigungsprozess rast die Musik auf einen Höhepunkt zu und es beginnt – das Seitenthema: endlos, in sich kreisend und selbstvergessen, in locker verschlungenen Linien zuerst von den beiden Celli, dann von den Geigen angestimmt.
Werden im ersten Satz (Allegro ma non troppo) Erwartungen an das Sonatenschema unterlaufen und in die Irre geführt, so kommt es im nachfolgenden Adagio zu einem beispiellosen Schockerlebnis, wenn die tranceartige, somnambule E-Dur-Seligkeit mit einem Unisono-Triller der fünf Streicher abstürzt in eine musikalische »Welt der Schmerzen« und, durchkreuzt von schroffen Synkopen und zuckenden Sechzehnteltriolen, Erste Violine und Erstes Cello sich in einer Melodie von qualvoller Gespanntheit aufreiben: ein grauenhafter Einbruch der »miserablen Wirklichkeit«, wie sie Schubert in seinen Briefen der letzten Jahre beklagte.
Eher unheimlich wirkt dagegen der Kontrast, mit dem das Trio die Vitalität des Scherzos durchbricht. Man müsste rein gar nichts wissen von Schuberts »ruiniertem« Leben, seinen abgezählten Tagen, um diese abgründigen, schattenhaften Takte als ein Memento mori aufzufassen, einen Abstieg in die Unterwelt: »Bedenke, dass du sterblich bist.« Sollte man das abschließende Allegretto im konventionellen Sinne eines »lieto fine« interpretieren: Ende gut, alles gut? Tatsächlich lässt namentlich ein »Kehraus« wie die grimmige »più presto«-Coda nur höchst zwiespältige Empfindungen zu. »Noch das letzte Unisono-C wird von dem Vorschlag Des aus gewonnen, – ein fast dämonisch anmutender Schluß!«, schreibt der Musikhistoriker Walter Riezler.
Ein paar Wochen blieben ihm noch, dann wurde er von der Vorsehung abberufen, dieser außerordentliche Mensch, damit auch anderen Leuten noch etwas zu tun übrig bliebe. Da ist man geneigt, mit Robert Schumann zu entgegnen: »Die Zeit, so zahllos und Schönes sie gebiert, einen Schubert bringt sie so bald nicht wieder.«