Lebensdaten des Komponisten
31. Januar 1797 im Himmelpfortgrund bei Wien – 19. November 1828 in Wien
Entstehungszeit
Begonnen vielleicht schon im Sommer 1824 oder Frühjahr 1825, Hauptarbeit im Sommer 1825
Widmung
Gesellschaft der Musikfreunde in Wien
Uraufführung
Erste bekannte öffentliche Aufführung am 21. März 1839 im Gewandhaus Leipzig unter der Leitung von Felix Mendelssohn Bartholdy
Das Werk beim BRSO
Erstaufführung: 26./27. Oktober 1950 in der Aula der Universität unter Eugen Jochum
Weitere Aufführungen unter Karl Böhm, Rafael Kubelík, Sir Colin Davis, Leonard Bernstein, Lorin Maazel, Riccardo Muti, Franz Welser-Möst, Daniel Harding, Sir John Eliot Gardiner und Mariss Jansons
Zuletzt auf dem Programm: 18. Dezember 2020 im Herkulessaal unter Herbert Blomstedt (unter Corona-Auflagen)
Im Herbst des Jahres 1838 begab sich Robert Schumann, Redakteur der Neuen Zeitschrift für Musik und wenig erfolgreicher Komponist von Klaviermusik, nach Wien. Hier wollte er sein Glück machen und endlich eine gesicherte Existenz aufbauen, ohne die der Vater der geliebten Clara Wieck niemals in die Heirat eingewilligt hätte. Hier, in der Metropole der klassischen Musik, sah er für seine Zeitschrift die beste Zukunft. Selbst die Vorsprache bei dem berüchtigten Polizei- und Zensurchef Sedlnitzky verlief ermutigend. Doch fünf Monate später musste der hoffnungsfrohe Existenzgründer unverrichteter Dinge wieder abziehen. Und so blieb das ertragreichste Ereignis in Wien der Besuch bei Ferdinand Schubert. Der hütete viele unveröffentlichte Werke seines verstorbenen Bruders Franz und ließ Schumann gerne in diesen Schätzen stöbern. Da war zum Beispiel eine dicke Orchesterpartitur. Interessant: eine unbegleitete Melodie in den Hörnern? Hat je eine Symphonie so angefangen? Sollte dies – ein einsamer, wie in der Ferne verhallender Ruf – etwa das Hauptthema sein? Das Tempo lautet allerdings Andante. Beim Weiterblättern bestätigt sich, dass die Hornmelodie zur langsamen Einleitung gehört. Erst einige Seiten später beginnt das Allegro ma non troppo und damit das Hauptthema. Und seltsam, so wunderte sich Schumann, »das Tempo scheint sich gar nicht zu ändern, wir sind angelandet, wissen nicht wie«.
Von der Vollendung zum Fragment
Mit 16, im Jahr 1813, hatte Schubert seine erste Symphonie geschrieben. Bis 1818 folgten fünf weitere Werke. Der Einfluss Haydns, Mozarts und anderer Wiener Meister ist spürbar, doch ausgerechnet Beethoven, der wichtigste zeitgenössische Symphoniker, hat darin wenig Spuren hinterlassen. Wie einige klassizistisch orientierte Kritiker und wohl auch sein Lehrer Antonio Salieri, tadelte Schubert damals Beethovens »Bizzarerie«. Da ließ er sich lieber noch von Gluck und Rossini inspirieren! Allerdings gewann er zunehmend an Souveränität. Manch zweitrangiger Komponist wäre froh um derart vollendete Werke gewesen. Warum Schubert nach seiner Sechsten Symphonie nicht mehr über Entwürfe und Fragmente hinauskam, lässt sich schwer sagen. Erst gegen Ende 1822 glückten ihm wieder zwei vollständige Symphoniesätze: die sogenannte Unvollendete. Hier fand er zu einer neuartigen symphonischen Konzeption, die ganz auf eigenen Füßen stand. Um Beethoven machte er noch immer einen großen Bogen: Außer dem Anspruch auf ein bedeutungstiefes, absolut individuelles Werk gibt es keine Berührungspunkte. Die Tonart h-Moll trug noch keine Symphonie, und drei Posaunen hatte selbst Beethoven nur für bestimmte Stellen verwendet. Das schon zeigt Schuberts Willen, Klangraum und Ausdrucksmittel massiv zu erweitern. Bereits die fertigen Sätze der Unvollendeten, aufgespannt über Idyllen und Abgründe, ergaben ein exorbitantes Werk, und Schubert sah wohl selbst ein, dass seine Mitwelt es kaum akzeptieren würde.
Der Weg zum Gipfelwerk
Nach seiner schweren Erkrankung, wahrscheinlich der Syphilis, ging es Schubert Ende 1823 wieder besser, aber im Frühjahr 1824 erlitt er einen Rückfall. Außerdem waren seine großen Opernpläne tragisch gescheitert. In einem Brief vom 31. März bezeichnete er sich »als den unglücklichsten, elendsten Menschen auf der Welt«. Doch genau in diesem depressiven Brief fällt auch der vielzitierte Satz, er wolle sich »den Weg zur großen Sinfonie bahnen«. Weniger bekannt ist der Hintergrund dieser Absicht: In Wien hatte sich die sensationelle Nachricht verbreitet, dass Beethoven seine Neunte Symphonie sowie Teile der Missa solemnis uraufführen werde. Bezogen auf dieses wohl größte musikalische Event des Jahrzehnts (das am 7. Mai 1824 stattfinden sollte) meinte Schubert: »Wenn Gott will, so bin auch ich gesonnen, künftiges Jahr ein ähnliches Concert zu geben.« Man bedenke, dass selbst Beethoven nur ganz selten ein eigenes Symphoniekonzert veranstalten konnte! So erscheint Schuberts Vorhaben geradezu utopisch. Die Symphonie musste jedenfalls auch »ähnlich« konzipiert sein: monumental, repräsentativ, an die große Öffentlichkeitgerichtet, nicht so subjektiv und gebrochen wie die h-Moll-Symphonie. Und Schubert musste sich messen lassen an Beethoven – er kam jetzt nicht mehr an ihm vorbei. Laut Moritz von Schwind saß er im August 1824 bereits am Werk: »Es geht ihm wohl und er ist fleißig. So viel ich weiß, an einer Symphonie.« Vielleicht begann er auch erst im Frühjahr 1825. Die Hauptarbeit erfolgte aber im Sommer 1825. Schubert befand sich, gemeinsam mit Michael Vogl, dem großen Sänger und väterlichen Freund, auf der längsten Reise seines Lebens. Es ging über Linz und Steyr, über Gmunden, dessen Umgebung er »wahrhaftig himmlisch« fand, und Salzburg bis hinauf nach Bad Gastein, wo er imposante Gipfel vor Augen hatte.
»Denke Dir einen Garten, der mehrere Meilen im Umfange hat […], denke Dir einen Fluß, der sich auf die mannigfaltigste Weise durchschlängelt, denke Dir Wiesen und Aecker, wie eben so viele Teppiche von den schönsten Farben […] und endlich stundenlange Alleen von ungeheuren Bäumen, dieses Alles von einer unabsehbaren Reihe von den höchsten Bergen umschlossen, als wären sie Wächter des himmlischen Thals […].« So beschrieb Schubert seinem Bruder Ferdinand die Landschaft südlich Salzburgs. Auf der Weiterfahrt nach Gastein beeindruckte ihn besonders der Pass Lueg, der sich immer mehr zu einem finsteren Tal verengt: »so sieht man plötzlich, indem der höchste Punkt des Berges erreicht ist, in eine entsetzliche Schlucht hinab, und es droht einem im ersten Augenblick einigermaßen das Herz zu erschüttern.« Es erstaunt, wie stark diese Beschreibungen Schuberts Instrumentalmusik ähneln. Über die romantische Ästhetik hinaus spiegelt die Landschaft die Weiträumigkeit, die Flächenbildung, den Farb- und Variantenreichtum, den ruhigen, epischen Fluss – mit einem Wort jene vielzitierte »himmlische Länge der Symphonie«, wie sie Robert Schumann preisen sollte. Aber es gibt auch die Schauder und Schrecken, die sich, wie in der Unvollendeten, in all das Schöne einschneiden. Man darf nicht einfach behaupten, die Landschaftserfahrung habe auf die neue Symphonie abgefärbt. Im Gegenteil: Der reisende Schubert projizierte seine musikalischen Visionen auf die Umgebung. Dort fühlte er sich künstlerisch heimisch, und dies wirkte dann zurück auf das gerade entstehende Werk. Nicht zuletzt der unbeschwerte Sommerurlaub ermöglichte endlich wieder das Gelingen einer kompletten Symphonie – der »Großen«.
Der Kreis öffnet sich: der erste Satz
Die Hörner rufen eine pastoral getönte Idylle herbei, die Posaunen, ernst und feierlich, wecken die Vorstellung von erhabener Größe. Dem hellen C-Dur ist mit der parallelen Moll-Tonart eine Spur von Melancholie beigemischt, und für einen Moment öffnet die Harmonik auch eine geheimnisvolle Tiefe. Schnell aber führt ein hymnischer Melodiebogen zurück ans klare Licht. Damit steckt die Einleitung den Stimmungsrahmen der ganzen Symphonie ab. Hier muss weder etwas erkämpft werden wie bei Beethoven, noch gibt es jähe Kontraste wie in der Unvollendeten. Das Werk ist auffallend einheitlich und organisch gebaut, und bereits die Anfangsmelodie trägt die Keimzellen in sich: das Intervall der Terz und den punktierten Rhythmus, aus dem gleich das Allegro so wundersam nahtlos herauswächst. Statt einer weiteren Melodie liefert dieses Hauptthema die rhythmischen Impulse, die den ersten Satz in Gang setzen.
Schumanns Behauptung, die Symphonie stehe in »völlige[r] Unabhängigkeit […] zu denen Beethovens«, stimmt nicht ganz: Diesmal hat sich Schubert von ihm viele Anregungen geholt, insbesondere aus der Siebten Symphonie. Dort bereits sind Einleitung und Hauptteil rhythmisch verfädelt, und auch der Bewegungscharakter ist über die Sätze hinweg vereinheitlicht. Schubert, der romantische Wanderer, wählt eine Marschbewegung, die vielfältig variiert von gemächlichem Schlendern bis hin zu eiligem Vorwärtsdrang. Die im klassischen Sonatensatz zwischen zwei Tonarten aufgespannte Exposition erstreckt sich über nicht weniger als vier tonale Felder (C-Dur, e-Moll, G-Dur, as-Moll), die von den Themen gleichsam durchschritten werden. Dafür lassen sie sich Zeit, und so trifft Schumanns Wort von der »himmlischen Länge« schon auf diesen ersten Teil zu. Im Gegensatz zu anderen Werken schweift Schubert aber harmonisch nicht sofort aus. Als wolle er seinen Kritikern zuvorkommen, baut er die tonale Architektur erstaunlich stabil. So wirkt der Wechsel ins e-Moll des zweiten Themas sehr stark: Plötzlich ist man ganz woanders, wie von einem Filmschnitt in eine andere Szenerie versetzt. Das dunkle as-Moll mit den leise dräuenden Posaunen lässt sogar erschaudern, und in Kenntnis von Beethovens as-Moll-Trauermarsch der Klaviersonate op. 26 kann man diesen unheimlichen Schatten leicht als den des Todesinterpretieren. Aber die jubelnde Hymne vertreibt ihn gleich wieder mit ihrem Licht. Die Durchführung und der Rest des Satzes intensivieren und steigern diesen Verlauf, bis am Ende der strahlende Gipfel erreicht ist – wo wieder die Anfangsmelodie erklingt.
Auch himmlisch lang: die Mittelsätze
Die langsamen Sätze aus Beethovens Dritter und Siebter Symphonie standen wohl Pate für das Andante con moto, aber trotz der Tonart a-Moll ist es weit weniger traurig gestimmt. Das Marschthema in der Oboe artikuliert sich eher wie ein Wanderer, der etwas melancholisch, aber durchaus beschwingt vor sich hin pfeift oder singt. Wiederholt bremsen allerdings zwei lange Viertelnoten die Bewegung – wie oft zwei langsame Schritte in Trauermärschen. Diese zwei Töne haben motivisches Gewicht, ja sind bisweilen bedeutungsschwer ausgestellt. Schließlich führen sie eine dramatische Entwicklung herbei, die in einer schrecklichen Dissonanz stecken bleibt. Es ist der katastrophische Höhepunkt, oder vielmehr Abgrund der sonst so gemäßigten Symphonie. Vielleicht spiegelt er Schuberts Empfindungen am Pass Lueg, wo in den Napoleonischen Kriegen ein grausames Schlachten stattfand. Dort gedachte Schubert angesichts der schreckenvollen Natur der »noch schreckenvolleren Bestialität« der Menschen. Unsagbar sacht und zögerlich beginnen die Celli wieder zu singen, der wohl berührendste Moment des ganzen Werkes.
Nach dem dann doch sehr trüben, von den stockenden Viertelnoten besiegelten Ende des Andante schwenkt das Scherzo abrupt um in die Welt der lustigen Landleute: Ruppig, wild und etwas unbeholfen, wie in klobigen Stiefeln, setzen die Streicher das Hauptmotiv, dem die Bläser mit einem neckisch leisen, ja kichernden Nachsatz antworten. Dazu gesellt sich eine fröhliche Melodie, und der Tanz bewegt sich hemmungslos durch alle möglichen Tonarten. Hier erst lässt Schubert seiner viel kritisierten »Modulationsmanie« freien Lauf. So ist das Scherzo ein humoristisches Spiel im Geiste Beethovens. Das wunderbare Trio aber will ernst genommen werden in seiner nicht enden wollenden, bald innigen, bald schmerzlichen, bald hymnischen Walzer-Seligkeit. Damit dehnen sich auch die Mittelsätze zu epischer Breite, so dass Schumanns Bild, die ganze Symphonie sei »wie ein dicker Roman in vier Bänden«, nicht zu weit hergeholt ist.
Der Kreis schließt sich: das Finale
Das krönende Finale erhebt den im ersten Satz partiell erreichten Jubel zur Grundstimmung: Alle dort angeknüpften Fäden der musikalischen Erzählung laufen hier zusammen und werden zu besonderer Intensität gebündelt. Den euphorisch aufspringenden Fanfaren folgen zwei weitere, melodisch sehr simple und eingängige Themen. Beide umkreisen engräumig die Terz und erinnern darin an das berühmte »Freude, schöner Götterfunken«. Zu Beginn der Durchführung gewinnt die Ähnlichkeit dann eine beinahe zitathafte Deutlichkeit: Mit lieblichen Holzbläsern grüßt die Symphonie Beethovens Neunte, folgt dann aber wieder ihrem ganz eigenen Weg. Mit diesem Gruß, der aufgrund der Terz-Thematik dem ganzen Werk eingeschrieben ist, stellt sich Schubert selbstbewusst neben den Titanen. Variative Prozesse, kühne Gänge durch ferne Tonarten und spannungssteigernde Maßnahmen treiben das Gefühl euphorischer Begeisterung schließlich auf die Spitze. Auch Schuberts Freude über die vollendete, als perfekter Zyklus gelungene große Symphonie mag sich darin aussprechen.
Die 130 Blätter starke Partitur schenkte und widmete er der Wiener Gesellschaft der Musikfreunde, die sich mit 100 Gulden revanchierte und sogar schon die Orchesterstimmen ausschreiben ließ. Zu einer Aufführung kam es dann aber doch nicht, wohl weil das Orchester dem Werk nicht gewachsen war. Dass Schuberts Konzertplan utopisch blieb, versteht sich von selbst. So war es Schumann, der die Uraufführung durch Felix Mendelssohn Bartholdy in die Wege leitete. Sein berühmter Artikel über die Symphonie, den er mit einer auf Beethovens Grab gefundenen Stahlfeder geschrieben haben will, sollte die Bedeutung seiner Entdeckung herausstellen. Dazu gab er dem Artikel Züge einer romantischen Novelle, die auch das Werk selbst in eine gewisse Aura hüllten. Tatsächlich hat Schuberts »Vollendete« die Symphonik des 19. Jahrhunderts stark beeinflusst, und manchmal lassen sich erstaunliche Vorausnahmen von Schumann, Bruckner, Brahms, ja sogar Tschaikowsky und Mahler vernehmen. Als Schumann sie erstmals hörte, schrieb er Clara: »Ich war ganz glücklich und wünschte nichts, als Du wärest meine Frau und ich könnte auch solche Sinfonien schreiben.«