Lebensdaten des Komponisten
11. Dezember 1803 in La Côte-Saint-André (Département Isère) – 8. März 1869 in Paris
Entstehungszeit
24. Januar – 8. September 1839
Widmung
Niccolò Paganini
Uraufführung
24. November 1839 im Saal des Konservatoriums in Paris unter der Leitung von Hector Berlioz
Das Werk beim BRSO
Gesamtaufführungen der »Symphonie dramatique« unter William Steinberg (1969), Sir Colin Davis (1985) und Riccardo Muti (2008)
Aufführungen einzelner oder mehrerer Instrumentalsätze: 27./28. Juni 2019 in der Philharmonie im Gasteig unter Daniel Harding und 30./31. Januar 2020 im Herkulessaal der Residenz unter Sir Simon Rattle
Als Hector Berlioz im Herbst 1827 zwei Aufführungen der englischen Schauspieltruppe William Abbots im Pariser Théâtre de l’Odéon sah, war es um ihn geschehen. Hatte bereits Hamlet am 11. September tiefen Eindruck auf ihn gemacht, erschütterte ihn die Präsentation von Romeo and Juliet vier Tage später bis ins Mark. So schrieb er später in seinen Memoiren über diesen Abend: »Ich sah jene Liebe, die so rasch wie ein Gedanke entsteht, die wie Lava brennt, die gebieterisch, unwiderstehlich, gewaltig und rein und schön wie eines Engels Lächeln ist; ich war Zeuge wütender Racheszenen, jener glühenden Umarmung, jener verzweifelten Kämpfe der Liebe und des Todes. Das war zu viel, und schon im dritten Aufzug, nur mühsam atmend und leidend, als ob eine eiserne Hand mein Herz umklammerte, sagte ich voller Überzeugung zu mir selbst: ›Ach! Ich bin verloren!‹[…] Shakespeare, der so unerwartet über mich kam, traf mich wie ein gewaltiger Blitzschlag, dessen Strahl mir mit überirdischem Getöse den Kunsthimmel eröffnete und mich bis in weite Fernen blicken ließ.«
Die Aufführung hatte ihn derart stark ergriffen, dass er sich den Besuch einer Folgevorstellung nicht zutraute und das Drama wohl auch zu einem späteren Zeitpunkt nie wieder gesehen hat. Dabei war es gewissermaßen ein doppelter Blitzschlag, der Berlioz an diesem Abend ereilte, denn nicht nur die Größe der Shakespeare’schen Dichtung, sondern auch die Verkörperung der Julia durch die 27-jährige Harriet Smithson hinterließ tiefe Spuren: »Die Wirkung ihres wunderbaren Talents oder vielmehr ihres dramatischen Genies auf meine Fantasie und mein Herz kann nur mit derjenigen verglichen werden, die der Dichter selbst auf mich ausübte.« Berlioz entbrannte in glühender Liebe und suchte – zunächst vergeblich – nach Wegen, die Aufmerksamkeit Smithsons zu erregen.
Er mag dieses Sehnen und Darben im Satz Roméo seul seiner zwölf Jahre später entstandenen Chorsymphonie Roméo et Juliette in musikalische Gestalt gegossen haben. Der komplette Titel dieses Satzes, Roméo seul – Tristesse – Bruit lointain de bal et de concert – Grande Fête chez Capulet, benennt die Stationen der dramatischen Handlung. Sie setzt ein mit dem gedankenverloren umherwandelnden Roméo, dessen Orientierungslosigkeit sich in den scheinbar ziellos schweifenden Melodiebögen der Ersten Geigen spiegelt. Eine sehnsuchtsvolle Melodie in den Holzbläsern, deren schwelgender Gestus bald vom ganzen Orchester aufgegriffen wird, versinnbildlicht die Fokussierung von Roméos Gedanken auf Juliette. Anders als in Shakespeares Original, in dem Romeo zunächst nicht Juliet, sondern Rosaline zu erobern hofft, konzentriert sich sein Sehnen in Berlioz’ Fassung, der Bearbeitungen von David Garrick und Émile Deschamps zugrunde liegen, von Anfang an auf Juliette. Sein Umherschweifen hat ihn vor das Haus der Capulets gebracht, in dem ein Ball stattfindet. Tremoli und Schlagwerksignale scheinen das einleitende Andante malinconico e sostenuto zu beenden und in den Allegro-Teil mit dem Fest überzuleiten, doch folgt zunächst ein weiteres Larghetto espressivo. Umrahmt von den Pizzicati der Celli im Stile einer gezupften Gitarrenbegleitung trägt die Oboe einen ausladenden »Chant mélodieux« vor – ein Lied Juliettes? –, der Roméo in Bann schlägt. Erst dann öffnen sich die Pforten zum Haus der Capulets und ziehen Roméo in das wilde Treiben der Festgesellschaft.
»Ungeheuer schwierig aufzuführen«
Wie Roméo seine Juliette konnte Berlioz Harriet Smithson schließlich für sich gewinnen – und anders als in Shakespeares Drama widersetzten sich die beiden den gegenseitigen familiären Vorbehalten und heirateten im Oktober 1833. Die Idee einer musikalischen Umsetzung von Roméo et Juliette hatte Berlioz in den fünf Jahren seit der ersten Begegnung mit Smithson immer wieder beschäftigt, doch erst 1839 nahmen diese Überlegungen konkrete Gestalt an. Ermöglicht wurde dies durch ein großzügiges Geldgeschenk Niccolò Paganinis, das dieser Berlioz nach einer Aufführung der ursprünglich auf seine Anregung hin geschriebenen Symphonie Harold en Italie 1838 zukommen ließ und das es Berlioz erlaubte, sich ganz der Komposition zu widmen, die er schließlich dem Gönner zueignete.
Neben Shakespeare war Ende der 1820er Jahre mit Beethoven ein weiterer künstlerischer Leitstern in Berlioz’ Leben getreten. Dieser Umstand schlägt sich nicht zuletzt in der Gestaltung von Roméo et Juliette als Symphonie mit Chören und Gesangssoli nieder, für die Beethovens Neunte unverkennbar als Vorbild fungierte. Unter Verwendung eines Librettos, das er bei Émile Deschamps in Auftrag gegeben hatte, komponierte Berlioz sieben Sätze, die am 24. November 1839 in Paris uraufgeführt wurden. Seinem Vater berichtete er in der Folge dieser und der beiden anschließenden Konzerte, dass es sich »wahrscheinlich um den größten Erfolg« seiner bisherigen Laufbahn gehandelt habe. Dennoch gelangte das Werk zu seinen Lebzeiten nur noch sechs Mal in Gänze zur Aufführung – und das auch nur außerhalb Frankreichs.
Einen möglichen Grund hierfür hat Berlioz selbst benannt: »Das Werk ist ungeheuer schwierig aufzuführen. Es wirft Probleme jeglicher Art auf, Probleme, die der Form und dem Stil inhärent sind und nur durch eine lange und geduldige Probenarbeit unter tadelloser Leitung gelöst werden können. Um es gut zu machen, braucht es erstklassige Interpreten – Spieler, Sänger, Dirigenten –, die es mit der gleichen Sorgfalt vorbereiten, wie eine neue Oper in einem guten Opernhaus vorbereitet wird, ja fast so, als ob es auswendig gespielt werden soll.« Der Verzicht auf die gesungenen Passagen erwies sich als probates Mittel, um den enormen Aufwand des Stückes zu reduzieren, und so stellte Berlioz die drei reinen Instrumentalsätze Nr. 2 bis 4 zu dem Triptychon zusammen, das auch am heutigen Abend zu hören ist.
Die Liebe – ein Hirngespinst?
Simon Rattle hat die Reihenfolge der Sätze noch einmal modifiziert, und so erklingt nach Roméo seul ein weiterer schneller Satz, der das spukhafte Treiben der Traumfee Königin Mab zum Inhalt hat. Roméos Freund Mercutio bringt diese Figur ins Spiel, als er den Liebeskummer Roméos scherzhaft als Hirngespinst abtut, das auf die Künste der Königin Mab zurückgehe, eines Zauberwesens, das auf einer Nussschale reite und durch die Ohren ins Gehirn seiner Opfer eindringe. Wenngleich die Traumfee für den Verlauf des Dramas von keinerlei Bedeutung ist, so liegt es doch auf der Hand, dass Mercutios Schilderung der durch Mab hervorgerufenen wilden Traumfantasien Berlioz zu einer musikalischen Nachdichtung inspirierte. Dem ersten Teil des Satzes mit seinen hektisch dahinhuschenden Achtelfiguren in Streichern und Holzbläsern, der Mab als »Messagère fluette et légère«, als »zierliche, leichtfüßige Botin«, vorstellt, folgt ein kontrastierender Mittelteil von nahezu lähmender Statik.
Die zugrunde liegende Textpassage erzählt von Mabs Eingebungen »dans le cerveau d’un page, qui rêve espiègle tour ou molle sérénade« (»im Gehirn eines Pagen, der von einem schelmischen Trick oder einer sanften Serenade träumt«). Diese von Flöten und Klarinetten vorgetragene Serenade erhebt sich über einer flirrenden, gläsern wirkenden Klanglandschaft aus Geigen- und Harfenflageoletts und wird von koboldhaften Triolenfiguren in den Bratschen begleitet. Im anschließenden dritten Teil, der den Anfang aufgreift und modifiziert, setzt Mab ihren nächtlichen Spuk fort und beschleicht nun einen Soldaten. Dieser sinnt im Schlaf vom Kampfestreiben und von Pauken und Trompeten, die in seiner verzerrten Traumwelt allerdings im Gewand der Hörner erscheinen. Eine letzte Episode zeigt zu den auffälligen Glockenklängen der Zimbeln Mabs Besuch bei einem Mädchen – Juliette? –, das von einem Ball träumt, ehe das Geisterwesen eilend entschwebt.
An die letzte Stelle des Triptychons setzt Rattle die Scène d’amour, einen ausladenden Adagio-Satz, der die Aufregung und das Liebesglück von Roméo und Juliette in allen Facetten hörbar macht. Es handelt sich um eine musikalische Nachzeichnung der berühmten Balkonszene, in der Romeo von seinem Versteck im Garten aus Julias Liebesmonolog belauscht, und sich die beiden in der Folge einander erklären. Berlioz gliedert den Satz in drei Teile, beginnend mit der zögerlichen Annäherung des Paares, die er in eine sehnsuchtsvolle Bratschenmelodie und eine drängende Cellokantilene kleidet. Ein kurzer, bewegterer Mittelteil thematisiert Juliettes Erregung in Form atemloser Holzbläser-Melodiefetzen, die von Cello-Rezitativen – Roméos beruhigenden Worten – ausgebremst werden. Der folgende, großdimensionierte dritte Teil, eine Erweiterung des einleitenden Adagios, greift die bisherigen Themen auf, führt sie fort und lässt sie zum Gesang der Liebenden verschmelzen. Von der Scène d’amour sagte Berlioz, sie sei nicht nur sein Lieblingssatz der Symphonie, sondern dass er sie allem anderen vorziehe, was er je geschrieben habe.