Lebensdaten des Komponisten
31. Januar 1797 am Himmelpfortgrund in Wien – 19. November 1828 in Wien
Entstehungszeit
Februar – 1. März 1824
Uraufführung
Öffentlich am 16. April 1827 in einem Konzert des Schuppanzigh-Quartetts im Haus »Zum Roten Igel«; privat vielleicht schon im Frühjahr 1824 in der Wohnung von Ferdinand Graf Troyer, der das Oktett in Auftrag gegeben haben soll
Wer Franz Schubert Anfang März 1824 besuchte, hatte möglicherweise nicht viel Glück: Gebeugt über ein mit Notenblättern übersätes Tischchen murmelt Schubert »Grüß dich Gott, wie geht’s«, doch die Antwort registriert er schon nicht mehr. Ehe die Tinte an der Feder trocknet, fährt er fort mit dem Schreiben, für den Besucher das Zeichen, sich zu entfernen. Vielleicht kann er zuvor noch einen Blick auf die Blätter erhaschen: Seltsam, sie enthalten keinen Text, auf dem Tischchen häuft sich Kammermusik, Streichquartette und eine auffällige Partitur mit acht Notensystemen. Der Komponist selbst wirkt etwas angeschlagen. Seine füllige Gestalt erscheint gleichwohl ausgezehrt, und statt der bekannten Lockenpracht ringeln sich nur spärliche Haare auf dem runden Schädel. Was ist geschehen?
Fieberhafter Schaffensdrang
Schubert hat das wohl schlimmste Jahr seines Lebens hinter sich. Franz von Schober, sein etwas leichtlebiger Freund, hatte ihn zu zwielichtigen Abenteuern mitgeschleppt, und beide hatten sich dabei die Syphilis eingefangen. Anfang 1823 brach die heimtückische Geschlechtskrankheit bei Schubert aus, gegen Sommer trat sie in ihr zweites Stadium: Fieber, grippeartige Beschwerden und Hautausschlag. Und sie stürzte Schubert in eine abgrundtiefe seelische Krise: »Sieh, vernichtet liegt im Staube, / Unerhörtem Gram zum Raube, / Meines Lebens Martergang / Nahend ew’gem Untergang«, so reimte er in seinem Gedicht Mein Gebet vom 8. Mai 1823. Im September oder Oktober kam er ins »Allgemeine Krankenhaus«, immerhin eine sehr fortschrittliche Anstalt, in der jeder Patient ein eigenes Bett hatte. Hier wurde er wahrscheinlich der äußerst schädlichen Behandlung mit Quecksilber unterzogen, die auch Haarausfall bewirkte. Jedenfalls trug er in dieser Zeit eine Perücke, um seine Kahlheit zu verbergen. Denn die Syphilis stigmatisierte die Betroffenen, Schubert und seine Freunde taten ihr Möglichstes, sie zu vertuschen. Um die Jahreswende 1823/1824 trat sie in eine Latenzphase, am 13. Februar 1824 berichtete Moritz von Schwind: »Schubert […] sieht viel besser aus und ist sehr heiter, ist sehr komisch hungrig und macht Quartetten und Deutsche und Variationen ohne Zahl.« Und bis zum 22. Februar ging es weiter aufwärts: »Schubert ist sehr wohl, er hat seine Perücke abgelegt und zeigt einen niedlichen Schneckerlanflug.« Die Krankheit hatte sich vorerst zurückgezogen. Sie wurde von einem fieberhaften Schaffensdrang abgelöst.
Nach dem Vorbild von Beethovens Septett
Inzwischen waren Schuberts langjährige Bemühungen, an der Oper Fuß zu fassen – nur so hätte er als freier Komponist gut leben können – auf fast tragische Weise gescheitert. Dass er sich nun so eifrig mit Kammermusik beschäftigte, mochte damit zu tun haben. Vielleicht hat ihn auch der bekannte Geiger und Beethoven-Freund Ignaz Schuppanzigh dazu ermutigt, der mit seinem Streichquartett erfolgreiche Konzerte gab. Am 14. März führte er Schuberts a-Moll-Quartett auf und verschaffte dem Komponisten damit großen und seltenen Beifall. Gleich danach, so berichtet Schwind, »kam das berühmte Septett von Beethoven«. Ob Zufall oder nicht: Genau dieses Stück stand Pate zu dem Oktett, das Schubert gerade geschrieben hatte. Zu Beethovens großem Ärger war das Septett op. 20 von 1800 – für ihn eher ein Nebenwerk – sehr populär, und einige Komponisten ahmten es nach. Ein gewisser Ferdinand Graf Troyer, Oberhofmeister bei Erzherzog Rudolf und guter Hobby-Klarinettist, soll bei Schubert ein ähnliches Werk bestellt haben. Die eigentümliche Besetzung, erweitert um eine zweite Violine, entspricht jedenfalls genau dem Vorbild, und bis in Details ebenso die Satzfolge. Mit vier abwechslungsreichen Mittelsätzen steht Beethovens Septett in der Tradition des Divertimento: eine heitere, leicht ins Ohr gehende Musik, die den Hörer gut unterhält, ohne ihn so zu fordern wie etwa Beethovens anspruchsvolle Quartette. Sein Unmut über die Beliebtheit des Werkes ist also durchaus verständlich. Wie aber setzt Schubert die Vorgaben dieses Genres um? Immerhin soll er ja, laut Moritz von Schwind, gerade »sehr heiter« gewesen sein …
Auf dem »Weg zur großen Symphonie«
Das Oktett wird von einem schreitenden Rhythmus (lang–kurz–kurz) eröffnet, bei Schubert als Motiv des »Wanderers« stets ein Symbol für die dunklen Wege des Lebens. Es geht über in eine kleine punktierte Figur, das Hauptmotiv des ersten Satzes. Leittönig drängt es vorwärts, tastet aber zunächst eher zögerlich nach der richtigen Tonart. Eine schlicht singende Melodie gerät gleich wieder ins Stocken, die Harmonik träumt sich in die Ferne. Die Erwartungen an ein Divertimento durchbricht diese Einleitung bereits. Hier, und mehr noch in der düster-unheilvollen Introduktion zum Finale, schlägt Schubert den Ton seiner späten, tiefgründigen Kammermusik an.
»Schmerz schärfet den Verstand und stärket das Gemüth; da hingegen Freude sich um jenen selten bekümmert, und dieses verweichlicht oder frivol macht.« Ende März 1824 vertraut Schubert seinem Tagebuch diese erstaunlichen Gedanken über den Schmerz an, seinem Freund Leopold Kupelwieser offenbart er sich brieflich »als den unglücklichsten, elendsten Menschen auf der Welt«. Schon immer sehnte er sich vergeblich nach Liebe, nun zerstört die als unheilbar erkannte Geschlechtskrankheit jede Hoffnung auf eine Beziehung. Auch der ihm Halt und Anregung bietende intellektuelle Freundeskreis löst sich auf, dessen Leseabende sind ausgeartet in ein rohes »Biertrinken u. Würstelessen«. Schubert hofft, morgens nicht mehr aufzuwachen. Ein heutiger Arzt würde wohl eine »depressive Episode« vermerken. Nach der offiziellen Diagnose- Klassifikation gehört dazu auch eine »Verminderung von Antrieb und Aktivität«, aber Schubert lässt sich keineswegs in diese klinische Schublade stecken. Im Gegenteil, im selben Brief an Kupelwieser berichtet er von großen Plänen: Er will ein Konzert geben wie Beethovens spektakuläre Akademie am 7. Mai 1824, und er bekundet seine vielzitierte Absicht, sich über die Quartette und das Oktett »den Weg zur großen Sinfonie [zu] bahnen«.
Das der vielsagenden Einleitung folgende Allegro lässt in seiner komplexen Ausarbeitung das Beethoven-Septett tatsächlich weit hinter sich. Aus der kleinen punktierten Figur (auch präsent in den Sätzen drei, fünf und sechs) knüpft Schubert ein dichtes motivisches Netz, das den musikalischen Reichtum des vielgestaltigen Satzes prägnant zusammenhält. Mit dem melodisch weit geschwungenen Seitenthema in d-Moll zieht er darüber hinaus eine dritte tonale Ebene in den Sonatensatz ein, der traditionell nur zwischen zwei Grundtonarten aufgespannt wird. Damit bricht Schubert die klassische Dialektik auf und schafft eine Form, die der epischen Fülle des Materials entspricht – vielleicht schon ein Schritt »zur großen Sinfonie«. Ganz unbekümmert erklingt der Divertimento-Ton eigentlich nur in der von der Ersten Violine heiter umspielten C-Dur-Gruppe. Mit einer beklemmenden, zwielichtigen Modulation ins fernste fis-Moll leitet das Hauptmotiv in die Durchführung, das dunkle Herz des Satzes. Hier ist von der gelösten Stimmung, die dem Werk oft zugeschrieben wird, nun wirklich nichts mehr zu spüren. Natürlich konnte Schubert in einem Auftragswerk, das in einem gesellschaftlichen Rahmen erglänzen sollte, nicht derart seinem Schmerz Ausdruck geben wie etwa im d-Moll-Quartett. Dennoch ist das Oktett sehr persönlich gefärbt und erzählt in seinen eigentümlichen Gegensätzen von Schuberts ambivalenter Seelenlage dieser Zeit.
Ebenso mehrschichtig sind die übrigen Sätze angelegt. Das Adagio beginnt im Serenaden-Ton. Die Klarinette allein (wohl auch um den Auftraggeber ins rechte Licht zu setzen) verströmt gesanglichen Zauber, dann aber verflechten sich die Instrumente zu immer kunstvollerer melodischer Vielstimmigkeit, und der Satz entfaltet sich wie das Gewebe einer reichen, empfindsamen Seele. Die Harmonik gibt ihm Farbe und Tiefe, eine Moll-Episode in der Reprise taucht es in melancholisches Dunkel. In der Coda scheint es dann nur noch an einem seidenen Faden zu hängen. Letztlich kann man an jedem Satz beobachten, wie schlichte Charaktere, die der Divertimento-Tradition verpflichtet sind, sich zunehmend vertiefen oder problematisiert werden. Das Finale etwa exponiert harmlose Träller-Liedchen, aber das Seitenthema setzt dann doch ein symphonisches Geschehen in Gang. Die beginnende Durchführung leitet wiederum in tonales Zwielicht über. Die Bewegung stagniert, und aus fahlem Dunkel erhebt sich ein dramatischer Höhepunkt. Am Ende erscheint noch einmal die dräuende Wolke der Einleitung, die nur die zu einem schnellen Wirbel überdrehte Heiterkeit des Allegro zu vertreiben vermag.
In sein Tagebuch notierte Schubert: »Meine Erzeugnisse sind durch den Verstand für Musik und durch meinen Schmerz vorhanden; jene, welche der Schmerz allein erzeugt hat, scheinen am wenigsten die Welt zu erfreuen.« Für das tiefernste d-Moll-Quartett trifft dies sicher zu, für das eher ausgeglichene Oktett nicht so eindeutig. Der Kritiker der Wiener Allgemeinen Theaterzeitung fand es bei der Uraufführung »lichtvoll, angenehm und interessant; nur dürfe die Aufmerksamkeit der Hörer durch die lange Zeitdauer vielleicht über die Billigkeit in Anspruch genommen sein«. Oder war ihnen das Stück doch fast zu ernst? Schuberts Verleger lehnte es jedenfalls ab, und so verschwand es für Jahrzehnte in der Versenkung. Erst 1853 wurde es veröffentlicht, allerdings – sehr bezeichnend – zurechtgestutzt auf die viersätzige Form der »hohen« Symphonik oder Kammermusik.