Lebensdaten des Komponisten
9. Februar 1885 in Wien – 24. Dezember 1935 in Wien
Entstehungszeit
12. März – 11. August 1935 in Bergs »Waldhaus« am Wörthersee
Widmung
Louis Krasner
Uraufführung
19. April 1936 in Barcelona mit dem Solisten Louis Krasner unter der Leitung von Hermann Scherchen
Das Werk beim BRSO
Erstaufführung: 20. Oktober 1950 im Herkulessaal mit Arthur Grumiaux unter Franz André
Weitere Aufführungen u. a. mit Henryk Szeryng, Gidon Kremer, Frank Peter Zimmermann, Gil Shaham, Renaud Capuçon und Veronika Eberle; Christian Tetzlaff spielte das Konzert beim BRSO bereits am 28./29. Juni 2012 unter Pablo Heras-Casado
Zuletzt auf dem Programm: 9./10./11. Mai 2019 in der Philharmonie im Gasteig mit Leonidas Kavakos unter Daniel Harding
Zaghaft erhebt sich ein eigentümlicher Akkord, sinkt wieder herab, der Bogen des Solisten folgt der Bewegung, gleitend über die leeren Saiten der Violine – und mehr passiert zunächst nicht. Wohl kaum ein anderes Stück hebt so ätherisch schwebend, aber auch so fahl und fremdartig an wie das Violinkonzert von Alban Berg. Es ist, als sei die eigentliche Musik noch eingefroren in dieser starr kreisenden Folge von hohlen Quinten. Wie Theodor W. Adorno, der Schüler Bergs, vermutet, spiegelt dieses »unbeseelte Ausprobieren der leeren Saiten« auch die Entstehungssituation des Stückes: Der amerikanische Geiger Louis Krasner bestellte im Februar 1935 beim mittlerweile berühmten Komponisten des Wozzeck ein Konzert für sich, aber Berg konnte sich für diesen Auftrag nicht recht erwärmen. Der Violine glaubte er sich bereits genug gewidmet zu haben, und er wollte endlich seine Oper Lulu beenden, an der er nun schon seit sieben Jahren arbeitete. Doch die 1500 Dollar, die Krasner bot, kamen sehr willkommen, seit in Nazi-Deutschland Wozzeck nicht mehr gespielt wurde und die Tantiemen ausblieben. So machte sich Berg sogleich ans Werk, wenn auch lustlos und uninspiriert. Er beschäftigte sich zwar mit den Spieltechniken und entschied, dass er das Konzert zwölftönig anlegen wollte, fand aber keine zündende Formidee und klagte schon bald: »Nach zweijähriger ununterbrochen bis zur Erschöpfung von Nerven und Hirn erfolgter Arbeitsleistung an Lulu nun diese Viechsarbeit an einem ganzen Violinkonzert, das im Herbst vollendet sein muss!«
Da Berg sonst sehr langsam an seinen enorm vielschichtigen und organisch verästelten Strukturen komponierte, dürfte auch der Termindruck der Inspiration nicht gerade förderlich gewesen sein. Dennoch konnte er »wie ein Rasender« nach nur einem »Ernteurlaub« auf dem Lande (wie Gustav Mahler war Berg ein komponierender Sommerfrischler) das Werk termingerecht beenden. Der innere Anstoß, der ihm endlich einen persönlichen Zugang zu dieser Auftragsarbeit vermittelte, kam mit einem tief erschütternden Erlebnis: Erkrankt an Kinderlähmung, starb am 22. April die erst 18-jährige Tochter der befreundeten Alma Mahler-Werfel. Das erschien umso tragischer, als Manon Gropius (sie stammte aus der Ehe Almas mit dem Architekten Walter Gropius) mit ihrem ganzen Wesen jeden, der ihr begegnete, in Entzücken versetzte. So berichtete Bruno Walter von einer »unirdischen Erscheinung« während eines Frühstücks bei Alma Mahler: »Ein engelhaft schönes, etwa fünfzehnjähriges Mädchen, mit einem Reh an ihrer Seite, erschien in der Türöffnung – sie hatte die Hand auf dem zarten Hals des Tieres, lächelte uns ohne Scheu zu und verschwand wieder. […] ich habe später manchmal ein paar Worte mit ihr gesprochen, stand aber immer unter dem Eindruck, dass sie sie nicht erreichten, dass sie fern war.« Als Manon schon krank, »bleich und himmlisch heiter«, im Bett lag, verstärkte sich in Bruno Walter das »mystische Gefühl der Ferne«. Aber vielleicht erinnerte er sich an sie auch schon unter dem musikalischen Eindruck des Violinkonzerts.
Zwölftonmusik mit sinnlicher Aura
Mit dem Entschluss, sein missliches Auftragswerk als eine Art Requiem für Manon anzulegen und es »Dem Andenken eines Engels« zu widmen, schien sich in Alban Berg ein geradezu heißer Quell an Ideen geöffnet zu haben. Und so taut auch die Musik des Anfangs allmählich auf, belebt sich im ersten Thema mit Ausdruck (ein melodisch hochgespannter Bogen im Bass, begleitet von traurig nachhängenden Akkorden), und die leeren Quinten füllen sich mit Terzen. Damit nimmt nun auch die von der Solo-Violine präsentierte Zwölftonreihe Gestalt an, die das Tonmaterial fast des gesamten Werkes bereitstellt. Berg folgt hier also der Methode seines Lehrers Arnold Schönberg, »mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen« zu komponieren, aber schon die Reihe selbst verweist auf den grundlegenden Unterschied: Die geschichteten Terzen bilden – bei Schönberg verpönte – reine Dreiklänge (mit dem Grundton auf den leeren Saiten der Violine); vier Ganztöne, die später noch eine überraschende Bedeutung erlangen werden, komplettieren die Reihe. Aus dem »Doppelsinn des Materials« (Adorno) ergibt sich ein harmonisch atonaler Satz, unter dem jedoch immer wieder tonale Färbungen durchschimmern. Die vielen Terzen verleihen der Klanglichkeit insgesamt eine eher weiche, sinnliche Aura. Auch sein in vielem noch klassisch-romantisches Ausdrucksvokabular verhilft dem Werk zu unmittelbarem Verständnis. Und wer mit Gustav Mahlers symphonischer Sprache vertraut ist, seinen Tanzcharakteren, Volksmusik- Anklängen und Fanfaren, seinen Katastrophen und Ruhe-Episoden, wird es schnell tiefer verstehen: Der Geist des von Berg hochverehrten, »heiligen Mahler« schwebt über dieser Partitur. Dass Berg all diese Elemente nicht epigonal verwendet, sondern in seiner eigenen, spezifisch modernen Tonsprache gleichsam einschmilzt, ist in jedem Takt hörbar.
Musikalisches Porträt
Die Popularität des Violinkonzerts, des vielleicht einzigen Stückes Zwölftonmusik, bei dem garantiert niemand den Konzertsaal verlässt, verdankt sich auch einem allgemein-menschlich ansprechenden Programm, das Berg freilich nur inoffiziell mitteilte: So soll Teil I die »Wesenszüge des jungen Mädchens in musikalische Charaktere« umsetzen, während Teil II »Katastrophe und Lösung«, also ihren Tod, die Trauer und den religiösen Trost schildert. Ob Berg die für ein Konzert unkonventionelle zweiteilige Form nur aufgrund dieses Programms gewählt hat, ist dabei unerheblich, denn sie erscheint auch rein musikalisch zwingend: Mit einem liedhaften Andante und einem scherzoartigen Allegretto sowie einem der Solokadenz entsprechenden Allegro und einem als Choralbearbeitung gebauten Adagio enthält jeder Teil jeweils zwei Sätze, die nahtlos ineinander übergehen. Schon an den Übergängen – auch innerhalb der Sätze – erweist sich die kunstvolle Komplexität des Stückes, auf welche die scheinbare Eingängigkeit und Klarheit nicht den Blick verstellen sollte. So erwächst die leichtfüßig-graziöse Rhythmik des Andante-Mittelteils organisch aus dem getragenen Rahmenteil, und der gerade Takt des Andante wandelt sich fast unmerklich in den Ländlertakt des Allegretto. Neue Abschnitte und Gestalten führen sich plastisch und markiert ein, aber alles ist verkettet, verfädelt, gleitet auseinander hervor. Für das Verhältnis von Solo und Orchester gilt Ähnliches. Die Violine – verkörpert sie den Engel? – ist unbestritten Protagonistin des Werkes, aber im ständig changierenden Kraftfeld der Haupt- und Nebenstimmen spielt sie keineswegs nur die Hauptrolle. Selbst wo sie scheinbar mit konzertierendem Gestus hervortritt, muss sie sich bisweilen in eine Nebenrolle fügen. So etwa an einer markanten Stelle im Allegretto, wo sich die Basstuba mit schwerfälligen Sext-Schritten ins Geschehen mischt: »Tuba durchlassen« fordert Berg von der Geige – eine Anweisung, deren Humor Adorno mit dem Ausspruch des Kindes im Zoo kommentiert: »Mutti, wir wollen gehen, ich glaube, der große Elefant fürchtet sich vor mir.«
Kärntnerlied und Bach-Choral
Nachdem im Allegretto eine ganze Reihe von Tanzgestalten vorübergezogen ist, dringt in das atonale Geflecht langsam und unmerklich ein fremdartiges Wesen ein: Es ist »A Vegale af’n Zweschpmbam«, eine von Horn und Trompete gespielte Kärntner Volksweise, die allerdings kaum sehr bodenständig wirkt: Die Melodie scheint sich vielmehr aus einem Traum in die Realität verirrt zu haben. Mit dem Sterbechoral »Es ist genug«, den Berg in Melodieführung, aber auch Harmonisierung von Johann Sebastian Bach übernahm, wird im Adagio ein Zitat sogar formbestimmend. Begleitet vom Trauergesang der Violine, führt es in zwei Variationen auf den »Höhepunkt«, und wiederum leuchtet die Tonalität des Zitats fremd und visionär aus dem Klangraum hervor. Es gibt aber auch einen überraschenden, zunächst gar nicht geplanten Bezug: Der sich schmerzvoll in eine übermäßige Quart spreizende Choralbeginn entspricht genau den vier Ganztönen von Bergs Reihe! Wer mag da noch an Zufälle glauben? Schließlich meldet sich in der schon jenseitigen Welt des Chorals noch einmal »Wie aus der Ferne« das Kärntnerlied, traumverlorenes Echo des Lebens, dann verklingt das Stück mit der resignativ absteigenden Schlusszeile des Chorals, während die Zwölftonreihe in abgeklärter Ruhe nach oben strebt.
Auf die Allgemeingültigkeit des so eng an seinen Entstehungsanlass gebundenen Violinkonzerts verwies als erster Adorno, wenige Monate nach dem Tod Alban Bergs: »Der Abschied, von dem die Musik tönt, scheint der von Welt, Traum und Kindheit selbst.« Aber solange das Werk noch gespielt wird, wird es wohl auch die konkrete Erinnerung an jenes engelhafte Mädchen bewahren, das es inspiriert hat.