Lebensdaten des Komponisten
25. April (7. Mai) 1840 in Wotkinsk – 25. Oktober (6. November) 1893 in Sankt Petersburg
Entstehungszeit
Mai – August 1888 in Frolowskoje
Widmung
Theodor Avé-Lallement, Vorstand der Philharmonischen Gesellschaft Hamburg
Uraufführung
5. (17.) November 1888 in Sankt Petersburg unter der Leitung des Komponisten
Das Werk beim BRSO
Erstaufführung: 1./2. Februar 1951 in der Aula der Ludwig-Maximilians-Universität unter der Leitung von Issay Dobrowen
Weitere Aufführungen u. a. unter Antal Doráti, Rudolf Kempe, Yuri Ahronovitch, Gary Bertini, Lorin Maazel, Mstislav Rostropowitsch, Andris Nelsons, Mariss Jansons und Zubin Mehta
Zuletzt auf dem Programm: 13. Juli 2019 bei Klassik am Odeonsplatz unter Alan Gilbert
Eigentlich herrschten prächtige Bedingungen, um sich an eine neue Symphonie zu setzen: Gerade, im Frühjahr 1888, hatte Tschaikowsky sein neues Sommerhaus bezogen, auf dem Landgut Frolowskoje bei Klin. Hier gab es wenig störende Menschen und viel Natur, malerische Wälder zum Spaziergehen und tiefe Ruhe zum Arbeiten. Genau das hatte er sich immer gewünscht! Nur eines fehlte: die Inspiration. Er fragte sich, ob er nun endgültig ausgeschrieben und seine Schaffenskraft ganz erloschen sei. Die alten Ängste und Selbstzweifel meldeten sich. Und vielleicht dachte er auch zurück an die schreckliche Zeit seiner Ersten Symphonie.
Es war im Frühjahr 1866. Gerade hatte Tschaikowsky sein Studium abgeschlossen, als einer der ersten akademisch ausgebildeten Komponisten Russlands. Die bessere Gesellschaft, und damit weite Teile seiner Familie, war überzeugt, dass ein »anständiger Mensch« Musik allenfalls als Hobby betreiben durfte. Nun also musste er sich beweisen. Zumindest für den Anfang würde ihm eine erfolgreiche Symphonie vielleicht Anerkennung verschaffen. Nur woran sollte er sich orientieren? An Mendelssohn wie sein Lehrer Anton Rubinstein? Oder an den Versuchen der jungen Wilden vom »Mächtigen Häuflein«, die ohne technisches Rüstzeug eine urwüchsig russische Symphonik erschaffen wollten?
Tschaikowsky schwebte von Beginn an ein anderes Ideal vor – nach dem hohen westlichen Standard und dennoch mit Bezug zur Heimat. Eine solche Symphonie musste damals wie die Quadratur des Kreises erscheinen. Damit setzte er sich einem psychischen Druck aus, der ihn nach zahllosen durchwachten Nächten in die erste seiner ihn lebenslang begleitenden Nervenkrisen trieb: Schlaflosigkeit, Angstzustände, Halluzinationen. Aber er gab nicht auf, und nach zwei Jahren bescherte ihm die Symphonie Winterträume einen glänzenden Erfolg. Auch mit den folgenden Werken meisterte er die selbst gesetzte Herausforderung, ja gewann noch an Individualität und Stilsicherheit. Die von großer Subjektivität und Leidenschaft geprägte Vierte Symphonie (1877) war dann der vorläufige Gipfel einer Werkreihe, die die Gattung in Russland fast im Alleingang etabliert hat.
Wege aus der Krise
In den 1870er Jahren brachte Tschaikowsky seine Homosexualtität in eine tiefgreifende Krise: »Und wahr ist auch, dass mein verfluchtes Schwulsein zwischen mir und den meisten Menschen einen Abgrund bildet. Sie verleiht meinem Charakter Entfremdung, Menschenangst, Scheu, unermessliche Schüchternheit, Misstrauen.« Obwohl die »widernatürliche Unzucht« wie im Deutschen Reich unter Strafe stand, mussten Homosexuelle in Russland damals nicht mit staatlicher Verfolgung rechnen. Was Tschaikowsky mehr als alles andere fürchtete, war eher das Gerede der Leute, die Scham, die Kompromittierung. Seine im Juli 1877 geschlossene Ehe mit Antonina Miljukowa war ein letzter verzweifelter Versuch der »Heilung« von der von ihm als fatal empfundenen Veranlagung. Dieser Versuch endete bekanntlich mit einer Katastrophe, dem totalen Nervenzusammenbruch. Er floh in die Schweiz und nach Italien, rappelte sich dort wieder auf und änderte sein Leben grundlegend.
Es scheint paradox, aber gerade durch sein nun geführtes »Nomadenleben« fand er wieder innere Ruhe. Er schaffte es sogar, sein Anderssein zu akzeptieren. Es fällt auf, dass Tschaikowsky seitdem erst einmal keine Symphonien mehr schrieb. Er widmete sich stattdessen kleineren, weniger anspruchsvollen Instrumentalformen. Das Violinkonzert, das Capriccio Italien, die Streicherserenade und die Orchestersuiten entstanden. Man hat den Eindruck, als würde er die großen Gefühle, die er sonst auf die symphonische Breitleinwand projizierte, von sich fernhalten wollen. Tschaikowsky war jedoch zu sehr Symphoniker, um das auf Dauer durchhalten zu können. Mit der Sehnsucht nach einem neuen Heim reifte auch der Wunsch nach einer neuen Symphonie. Ein kleiner Schritt dorthin gelang mit der ernsten, solide durchgearbeiteten Orchestersuite Nr. 3 (1884), ein großer mit der Programm- Symphonie nach Lord Byrons Manfred (1885). Damit kehrte er auch zur subjektiven, leidenschaftlichen Seelenmusik zurück: »Der Inhalt ist dermaßen tragisch, dass auch ich mich allmählich in einen ›Manfred‹ verwandle!«
Mit dem Jahr 1888 begann für Tschaikowsky abermals ein neuer Lebensabschnitt: Seit Neuestem als Dirigent tätig, unternahm er eine viermonatige Europa-Tournee, die seiner Musik weitreichende Anerkennung im Westen verschaffte. Allerdings litt er so sehr an Heimweh, Hektik und Einsamkeit, dass die Tournee ihm auch nicht aus der Sinnkrise half: »Ich habe einige Berühmtheit erlangt, aber jede Stunde frage ich mich – wozu? Ist es der Mühe wert? Und ich antwortete mir, dass es viel besser ist, ruhig und ruhmlos zu leben.« Genau das konnte er nun in seinem Sommerhaus. Und er wusste, dass er mit viel Sitzfleisch und Zigaretten immerhin seine Schaffenskrise in den Griff bekommen konnte. Am 19. (31.) Mai vermeldete er: »Allmählich und mit einiger Mühe beginne ich nun, aus meinem abgestumpften Gehirn eine Symphonie herauszuquetschen.«
Das ging dann erstaunlich schnell. Im August 1888, rund elf Jahre nach der Vierten, war die Fünfte fertig, »und es scheint, sie ist mir nicht misslungen – das ist gut.« Die begeisterten Hörer der ersten Aufführungen teilten Tschaikowskys Einschätzung, nicht aber die Kritiker, die dem Werk unter anderem »Effekthascherei« und »störende Walzerthemen« vorwarfen. Dabei ist der Fortschritt gegenüber der Vierten offensichtlich. Mit dem ersten Satz gelang ein packender, stringent durchgeführter Sonatensatz, dessen prägnante Themen ein logisch nachvollziehbares Geschehen in Gang setzen. Unerbittlich drängt das scharf rhythmisierte Hauptthema voran, das auf den bloßen Rhythmus reduzierte Kernmotiv entwickelt bald eine erschreckende Schlagkraft. Das expressiv- gesangliche Seitenthema hat dagegen keine Chance. Überhaupt läuft das Geschehen auf einen Grundkonflikt zwischen rhythmischen und melodischen Kräften hinaus. In der dramatischen Durchführung schlägt das Kernmotiv alles andere nieder, am Schluss verschwindet es in nachtschwarzer Tiefe.
»Es komme, was kommen muss«
Unter den ersten Entwürfen finden sich folgende Notizen Tschaikowskys:
Programm: Erster Satz der Symphonie
Introduktion. Vollkommene Beugung vor dem Schicksal oder, was dem gleichkommt, vor dem unerforschlichen Walten der Vorsehung.
Allegro I: Murren, Zweifel, Klagen, Vorwürfe gegen +++.
II. Soll ich mich dem Glauben in die Arme werfen???
Ein wundervolles Programm, wenn man es nur ausführen könnte.
Was davon wirklich so in die Fünfte eingegangen ist, bleibt unklar. Tschaikowsky selbst behauptete, sie habe kein Programm. Zumindest den Schicksalsgedanken hat er ihr aber aller Wahrscheinlichkeit nach zugrunde gelegt. Ihn verkörperte bereits das musikalische Motto der Vierten, und dies gilt wohl auch für die resignative, trauermarschartige Einleitungs-Melodie der Fünften. Tschaikowsky hatte tatsächlich einen typisch russischen Hang zum Fatalismus. So war sein Entschluss, Antonina zu heiraten, auch davon beeinflusst: »Ich kam zu der Überzeugung, dass ich meinem Schicksal nicht entgehen kann, und dass die Begegnung mit diesem Mädchen Vorsehung ist. Es komme, was kommen muss.« Das fatale Motto greift, so wie das Schicksal ins Leben, von außen in den Ablauf der Musik ein.
Im Gegensatz zur Vierten kehrt es in allen folgenden Sätzen wieder und verändert dabei seine Gestalt und seinen Charakter: Wie mit ehernen Klauen reißt es das Gewebe des zweiten Satzes auf, ein nostalgischer, wehmütiger Nachklang eines Glücks, das offenbar das Schicksal zerstört hat. Wie ein geisterhafter Schatten folgt es dem Walzer des dritten Satzes, der für Tschaikowskys einstige Freude an mondänen Vergnügungen steht. In gewissem Sinn lauert das Schicksal schon im Walzer selbst, dessen Melodie das Motto motivisch eingeschrieben ist. Im vierten Satz erfährt es schließlich eine grundlegende Wandlung: Nach E-Dur versetzt, wird die fahle, gedrückte Melodie vom Anfang des Werkes zu einer feierlichen, erhebenden Hymne (Andante maestoso), die am Ende das ganze Werk strahlend krönt. Deshalb wird das Finale vielfach kritisiert: Ist das nicht ein aufgesetztes Happy End, eine prunkvolle, aber leere Fassade, Bombast ohne Substanz und Tiefe?
Über dieser Frage wird zumeist das Allegro vivace vergessen, das ja eigentlich den Hauptteil des Finales bildet. Hier zeigt sich Tschaikowsky auf der Höhe der Inspiration. Zum folkloristisch gefärbten Hauptthema kann man sich leicht einen wilden, ungezügelten russischen Tanz vorstellen. Die rhythmisch und melodisch sehr elementare Tonfolge könnte sich auch in Endlosschleife wiederholen, eine ebenfalls typische russische Eigenheit, die Tschaikowsky zum genialen Variations-Finale der Zweiten Symphonie angeregt hat. In der Fünften entwickelt er aus der simplen Tonfolge einen konzentrierten Sonatensatz, der rastlos vorwärtsdrängt und je nach Interpretation (etwa in der legendären Einspielung von Jewgenij Mrawinskij) einen rasenden Sog entwickelt.
Bei aller Ausgelassenheit ist das kein heiteres, gelöstes Fest, sondern eher der verzweifelte Versuch, im frohsinnigen Taumel Vergessen zu finden. Auch das Schicksalsmotto treibt das Geschehen noch einmal drastisch voran. Diese Musik spricht aus einer nach wie vor rastlosen, am Leben leidenden Seele. Von der Form her ist der triumphale Schlussteil dem Sonatensatz nur angehängt. Es bleibt ein Rätsel, was für ein Sieg da gefeiert wird. Über das Schicksal? Aber es triumphiert ja gerade die fatale Melodie. Oder siegt das Schicksal selbst? Das klingt auch nicht plausibel.
Möglicherweise hat Tschaikowsky hier seine künstlerische Überzeugung zum Ausdruck gebracht: »Musik ist keine Illusion, sie ist Offenbarung. Ihre sieghafte Kraft besteht darin, dass sie eine Schönheit offenbart, die uns in keiner anderen Sphäre zugänglich ist und die uns mit dem Leben versöhnt.«