Lebensdaten des Komponisten
25. Januar 1913 in Warschau – 7. Februar 1994 in Warschau
Entstehungszeit
1951 – 1954
Uraufführung
1954 in Warschau
Das Werk beim BRSO
Erstaufführung: 1./2. Juni 2000 im Herkulessaal unter Lorin Maazel
Zuletzt auf dem Programm: 8./9. Oktober 2009 in der Philharmonie im Gasteig unter Mariss Jansons
Selten nur beschreiben kompositorische Entwicklungen eine gerade Linie. Was im Nachhinein als Konsequenz gedeutet werden mag, ist oft nichts anderes als das zufällige Aufeinandertreffen von Ereignissen oder Erlebnissen. Bei dem 1913 in Warschau geborenen Witold Lutosławski verhält sich das nicht anders. Lange war für ihn überhaupt nicht klar, ob er eine Laufbahn als Komponist einschlagen sollte. Zunächst hatte er mit dem Studium der Mathematik begonnen, und die Affinität dazu ist in seinem ganzen Schaffen spürbar. Als er sich aber verstärkt dem Schreiben von Musik widmete und sich erste Erfolge einstellten, begann der Zweite Weltkrieg und erstickte manche Ansätze im Keime.
Auch danach war Polen noch lange von den vorantreibenden Strömungen der Musik abgeschlossen, und so wirken viele Arbeiten Lutosławskis aus den 30er-, 40er-, ja sogar 50er- Jahren wie eigentümliche Findlinge, die gleichsam schief in ihrer Zeit stehen. Dazu trägt auch bei, dass Lutosławski in seinen frühen Arbeiten – falls dieser Begriff für einen Komponisten, der gegen Ende dieser Periode langsam auf die 50 zuging, zutreffend ist – gerne deutliche, oft sogar überzeichnete Bezüge zu »Stilmodellen« herstellte. Auf eine neoklassizistische Phase, der etwa seine Paganini-Variationen und seine 1947 abgeschlossene Erste Symphonie zuzuordnen sind, folgte als neuer Bezugspunkt das Werk Béla Bartóks. Stets aber benutzte Lutosławski diese Folien wie einen Hintergrund, gegen den die eigene Individualität mit Nachdruck anschrieb. Daraus resultierte ein ganz eigenwilliger Ton, bei dem sich starke Expression und ein zwingendes strukturelles Kalkül die Hand gaben.
In diesem Sinne äußerte Lutosławski einmal in einem Gespräch: »Wissen Sie, ich fange niemals an zu komponieren, bevor ich nicht zu einer konkreten Vorstellung der Form des Stückes gelangt bin. Meiner Meinung nach muss man immer von zwei Seiten gleichzeitig beginnen: von oben und von unten. Damit möchte ich sagen, dass man gleichzeitig durch die Straßen gehen, aber auch die Stadt von oben, wie vom Flugzeug aus betrachten und sich ihr allmählich nähern muss, um die Details zu sehen. Ich muss, um eine Komposition zu beginnen, genügend Material von beiden Ausgangspunkten aus gesammelt haben: einerseits eine recht klare Vorstellung von der Form des Stücks, und andererseits Schlüsselideen.«
Man darf hierin einen durchaus skrupulösen Ansatz des musikalischen Schaffens sehen, woraus dann auch die relativ langen Entstehungszeiten zumindest seiner größeren Kompositionen resultieren. Die Erste Symphonie etwa nahm zwischen 1941 und 1947 Gestalt an, die Arbeit am Konzert für Orchester erstreckte sich von 1950 bis 1954, die an der anschließenden Trauermusik von 1954 bis 1958. In diesen Zeiträumen kelterte Lutosławskis Musik gewissermaßen aus, die beiden unterschiedlichen perspektivischen Ansätze näherten sich an und wurden zur Deckung gebracht. Und nach der eben erwähnten Trauermusik hatte Lutosławski dann ein musikalisches Schlüsselerlebnis, das sein weiteres Schaffen nachhaltig prägen sollte. Er hörte das auf Zufallsoperationen basierende Klavierkonzert von John Cage und entdeckte spontan die ihm innewohnenden Möglichkeiten für sein eigenes kompositorisches Denken. In Bezug auf die Form machte er keine Abstriche, die Nahperspektive aber unterwarf er den gestalterischen Möglichkeiten einer von ihm so bezeichneten »begrenzten Zufallswirkung«. Hier erst schien er für sich eine Möglichkeit zu sehen, die Schablonen tradierter Konzeptionen zu verlassen und ganz eigene Wege zu gehen.
Bezugspunkt Bartók
Nicht nur mit seinem Titel orientiert sich das Konzert für Orchester ganz eindeutig an Bartóks Musiksprache. Zu nennen wären die Plastik der Gestalten, die sich häufig an musikalisch Umgangssprachlichem orientieren, der exzessive Einsatz von Klangfarben, die Kontrastierung von Linie und flirrend aufgeweichten Flächen, die Gesten von Fanfare und Choral, die Pointierung des Rhythmischen. All dies gehört zum Reservoir der Bartók’schen Ausdrucksmittel, und Lutosławski hatte sich zu dieser Zeit offensichtlich intensiv damit auseinandergesetzt: wohl auch deshalb, weil man im sozialistischen Polen das Werk Bartóks, im Gegensatz etwa zu dem der Wiener Schule, ungehindert kennenlernen konnte.
Diese Basismittel aber werden dann bei Lutosławski gleichsam überschrieben und in andere Richtung gelenkt. Hier kommt der Aspekt von Fern- und Nahwirkungen, von dreidimensionaler Kontur zum Tragen, der nicht nur auf die Dualität von Form und Binnenstruktur beschränkt bleibt. Was beim Hören des Konzerts für Orchester sofort auffällt, sind Momente des Grellen, die – übertragen auf den Bereich der Malerei – an den harten Einsatz von Farben bei den französischen »Fauves« erinnern; diese setzten sich damit vom Impressionismus ab. So entsteht im Konzert für Orchester oft eine geradezu dringliche Nähe, was vielleicht auch der Grund dafür war, dass der Beginn des zweiten Abschnitts im ersten Satz mit seinen motorischen Stampffiguren einst zur Titelmusik des ZDF-Magazins avancierte. Selten, das sei hier nebenbei angemerkt, wurde ein funktionales Erkennungsmotiv so treffsicher ausgewählt, denn das Moment von Sensation, Nähe und kritischer Trennschärfe eignet auch der Stellung dieses Abschnitts in Lutosławskis Konzert für Orchester.
Nähe und Ferne
Schon der Beginn der Intrada wirft ein bezeichnendes Licht auf die prägnante Themenbildung Lutosławskis. Das Thema in den Celli umschreibt in charakteristischer Konfrontation von rhythmischen und melodischen Schwerpunkten den d-Moll-Dreiklang mit zwei aus dem Geiste von Verzierfiguren hergeleiteten Nebennoten. Die Bassbasis aber ist der über 34 Takte fest gefrorene Ton ›fis‹ als kontinuierliches Reibungselement zum d-Moll-Bereich. Diese Binnenspannung treibt das Kopfmotiv widerständig suchend voran, es durchstreift mit Ausweitungen, freilich ohne irgendwo seine Kontur zu gefährden, den Tonraum, rückt den Ausgangston in Quintschritten nach oben und untergräbt dabei den tonalen Ausgangsrahmen. Das Bild, das Lutosławski für die Charakterisierung seiner Art des Komponierens gab, lässt sich unschwer auf diesen Beginn übertragen. Raum wird gewissermaßen aus der Ferne abgetastet, um schließlich, wie in einem filmischen Zoom-Verfahren, direkt in das Geschehen des auch körperlich spürbar nahen motorischen Teils einzutauchen. Danach, dies ist schon der Schluss der Intrada, wird wieder Distanz hergestellt, diesmal als auskomponierter Vorgang der Auflösung. Flirrende Flächen bergen das nun ins Schwerelose gewendete Kopfmotiv des Satzes, die Musik entfernt sich gleichsam vom Ort des Geschehens.
Trennschärfe und Plastizität
Ähnliche Verfahren von Nähe- und Distanzbildung bestimmen auch die beiden folgenden Sätze, die schon in ihren Überschriften von perspektivischer Anordnung künden. Der zweite ist mit Capriccio notturno e arioso, der dritte mit Passacaglia, Toccata e Corale überschrieben. Lutosławski meint damit nicht nur eine einfache Gegenüberstellung von Satzcharakteren, wie etwa Scherzo und Trio, die als Formidee hinter dem zweiten Satz steht. Vielmehr herrscht auch hier ein Mechanismus der Durchdringung, der Verschiebung von Schichten und Distanzen. In das huschende Treiben des Capriccio notturno, das in seinem angespannten Tempo mit flüchtigen Figuren die Möglichkeiten klarer Gestaltwahrnehmung überschreitet, dringt in fanfarenhafter Trennschärfe das Arioso mit schließlich getragener melodischer Ausrichtung. Lutosławski komponiert also mit Formen hörender Rezeption, mit unterschiedlicher Differenzierung im Erfassen von akustischen Ereignissen. Nach dem Arioso folgt wiederum ein Prozess der Auflösung, der schließlich in eine indifferente Geräuschfläche übergeht.
Auch der dritte, kompositorisch wohl dichteste Satz arbeitet mit ähnlichen Elementen. Schon das Passacaglia-Thema ist in diesem Sinne ganz eigenwillig gebaut. Denn es spielt in seiner krassschlichten D-Dur-Ausrichtung mit Momenten des Trivialen. Von seiner Gestalt her könnte es zu hohlem Triumph tendieren, gerade dieses Moment aber wird gnadenlos unterminiert. Aus einer dem Thema im Grunde fremden Pianissimo-Region treibt es in immer intensiverer Draufsicht ins Katastrophische. Spukhafte, sich mit Energie ladende Gestalten öffnen schließlich ein Fenster zum Choral, in den dann das Passacaglia-Thema arabesk »befriedet« eingebettet wird. Es sind wohl diese Momente – das Hervortreiben von Plastizität, das Einfache in komplexer Umgebung, die Perspektivenwechsel –, die Witold Lutosławskis Konzert für Orchester zu einer aufregend singulären Erscheinung der damaligen Musik machen. Trotz benennbarer Vorbilder gibt es kein Pendant.