Entstehungszeit: 1944
Lebensdaten des Komponisten: 6. Dezember 1919 in Přerov – 27. Januar 1945 im KZ Fürstengrube
Gideon Klein war keine zwanzig Jahre alt, als er an den Abgrund gedrängt wurde: ausgeschlossen von der Welt. Die wenigen Jahre, die ihm blieben, waren kaum Leben zu nennen, bloß noch ein Überleben. Mit dem Streichtrio schrieb er sein letztes Werk, und dass es diese Musik überhaupt gibt, dass sie nicht verlorenging, ist die unwahrscheinlichste Geschichte, die sich nur denken lässt. Dabei glich seine Kindheit einem einzigen Versprechen auf die Zukunft. Aber die Zukunft kam nicht. Es kamen die Deutschen.
Schon als Zehnjähriger hatte Gideon Klein komponiert. Bald zog er aus der mährischen Provinz nach Prag, besuchte ab 1934 die Meisterklasse für Klavier am Konservatorium, vertiefte sich in die Partituren von Janáček und Schönberg und bewies neben einer grenzenlosen Neugierde ein phänomenales musikalisches Gedächtnis, das es ihm erlaubte, einmal gehörte Kompositionen noch Tage später ohne einen Blick in die Noten nachzuspielen. Aber dann besetzten die Deutschen sein Land und errichteten das »Protektorat Böhmen und Mähren«. Klein hatte sich gerade für Musikwissenschaft an der Prager Karls-Universität eingeschrieben, als im November 1939 die tschechischen Hochschulen geschlossen wurden. Auch das Kompositionsstudium bei Alois Hába, dem Pionier der mikrotonalen Musik, musste er abbrechen, da er als Jude in kürzester Zeit seiner Rechte beraubt wurde. Zwei Jahre lang konnte Gideon Klein noch illegal und unter Pseudonym auftreten, auch an der experimentellen Bühne »D 34« des Dadaisten Emil František Burian, zuletzt jedoch nur in verschwiegenen Hauskonzerten in seiner Privatwohnung.
1941 wurde Klein in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert, eine Festung aus dem späten 18. Jahrhundert, die unter der nationalsozialistischen Fremdherrschaft mit zynischem Kalkül als »Musterghetto« ausgegeben wurde, um »das Ausland« und die Kommissionen des Internationalen Roten Kreuzes über die Wirklichkeit der Zwangsarbeit und den planmäßigen Mord an den Juden zu täuschen. Im Zuge dieser so grausamen wie grotesken Propaganda waren die jüdischen Häftlinge in Theresienstadt zu einer organisierten »Freizeitgestaltung« aufgerufen, die selbst Opernaufführungen von Smetanas Verkaufter Braut oder Mozarts Zauberflöte einschloss. Gideon Klein leitete die Abteilung für Instrumentalmusik, gab Klavierabende auf einem notdürftig reparierten Konzertflügel, spielte Kammermusik, engagierte sich bis zur Erschöpfung als Korrepetitor, Rezitator, Musikpädagoge, mit einem verzweifelten Enthusiasmus und doch ohne jede Illusion: »Bedenkt man, unter welcher Anspannung der auftretende Künstler steht, der in einer sich ständig verändernden Umwelt und unter sehr unangenehmen Lebensbedingungen existiert, dann begreift man, dass die Großstadtkritik nicht immer der Maßstab für seine Leistung sein kann.«
Trotz alledem komponierte er Madrigale nach Gedichten von Villon und Hölderlin, Fantasie und Fuge für Streichquartett, eine Klaviersonate und fast am Ende, im Herbst 1944, das Streichtrio. Der mittlere der drei Sätze umfasst Variationen über ein Volkslied aus der Mährischen Slowakei, das ganz schwer wird vor lauter Heimweh und so todtraurig endet wie es anfängt. Doch verwandelt Klein den Ausdruck und die Faktur nach und nach, wenn er das Lied variiert, in einen Kanon, ein bitteres Scherzo, in harsche Motorik und bizarre Pizzicato-Stafetten, obgleich die Gravitation der Trauer die Musik immer wieder aus allen Wolken reißt. Aber eines ist dieses Streichtrio in keinem Takt: halbherzig oder kleinmütig und depressiv. Die Ecksätze klingen straff gespannt vor Energie, Scharfsinn und Angriffslust. Gideon Klein komponierte frei und souverän mit rasanten Ostinati, doppeldeutigen Metren, kantigen Themen und widerborstigen Melodien, er wechselt von der Dur-Moll-Tonalität zu den alten Kirchentönen, zu Fünftonreihen und Ganztonleitern, exakt auf der Trennlinie zwischen archaischer und avantgardistischer Kunst. Und er liebt eine expressiv unberechenbare Musik mit den wildesten Umschwüngen und offenen Ausgängen, einem Hang zu Verknappung und Überzeichnung, zu einem subversiven Humor: »Burlesco« lautet die letzte Vortragsbezeichnung. Am 7. Oktober 1944 beendete Gideon Klein das Streichtrio und ließ das Manuskript bei seiner Freundin zurück, die das Konzentrationslager überleben sollte.
Er aber kam neun Tage später mit einem der Transporte nach Auschwitz und von dort sogleich in das Außenlager Fürstengrube zur Zwangsarbeit in einem Bergwerk. Nur Stunden vor der Befreiung durch die Rote Armee wurde Gideon Klein mit anderen Häftlingen von einem SS-Kommando erschossen, am 27. Januar 1945. Er starb mit 25 Jahren. Und hätte doch so gerne noch gelebt und so viele Werke noch geschrieben.