Lebensdaten des Komponisten
8. Juni 1810 in Zwickau – 29. Juli 1856 in Endenich
Entstehungszeit
Erstfassung: 29. Mai – 7. Juni 1841 (Entwurf)
7. Juni – 4. Oktober 1841 (Ausarbeitung und Instrumentierung)
Endfassung: 12. – 19. Dezember 1851
Uraufführung
Erstfassung: 6. Dezember 1841 im Leipziger Gewandhaus unter der Leitung von Ferdinand David
Endfassung: 3. März 1853 im Geislerschen Saal in Düsseldorf unter der Leitung von Robert Schumann
Das Werk beim BRSO
Erstaufführung: 7./8. Mai 1953 im Münchner Herkulessaal unter Eugen Jochum
Weitere Aufführungen unter Rafael Kubelík, Christoph Eschenbach, Günter Wand, Heinz Holliger, Pablo Heras-Casado und Sir John Eliot Gardiner
Zuletzt auf dem Programm: 23. Oktober 2020 in der Philharmonie im Gasteig unter Gustavo Dudamel
Schon ein knappes halbes Jahr nach dem eindrucksvollen Erfolg von Schumanns Erster Symphonie in B-Dur, der Frühlingssymphonie, durfte sich das Leipziger Publikum am 6. Dezember 1841 erneut zu einer Schumann’schen Symphonien-Premiere im Gewandhaus einfinden. Dieses Ereignis war von keiner geringen Bedeutung, schließlich hatte Schumanns Erstling große Resonanz gefunden, und nach Beethoven waren Symphonien von Rang noch immer Mangelware. Zudem stand eine weitere Orchester-Novität Schumanns auf dem Programm: Ouvertüre, Scherzo und Finale, op. 52. Die Erwartung dürfte also gespannt gewesen sein, nachdem Schumann, der bisher überwiegend als Pionier der Klaviermusik und des Liedes hervorgetreten war, sich nun endlich auch systematisch der großen, repräsentativen Form der Orchestermusik widmete. Doch die Aufführung stand unter einem weniger glücklichen Stern als die der B-Dur-Symphonie einige Monate zuvor. Gewandhauskapellmeister Mendelssohn, der die Frühlingssymphonie so erfolgreich aus der Taufe gehoben hatte, war verhindert (an seiner Stelle dirigierte Ferdinand David), und die beiden Schumann’schen Werke konnten sich inmitten eines bunten Sammelsuriums von Einzelnummern und vor allem neben der Attraktion des Doppelauftritts von Clara Schumann und Franz Liszt am Klavier nicht richtig entfalten.
Verschlungene Wege
Wer sich dennoch nicht ablenken ließ und der neuen Symphonie in d-Moll aufmerksam lauschte, dürfte aber bemerkt haben, dass sie aufregend ungewohnte, poetisch verschlungene Wege einschlug. Hatte der Kopfsatz überhaupt eine Sonatenform mit einem kontrastierenden zweiten Thema? Und was bedeutete es, dass die Romanze gerade mal eine halbe Minute, nachdem Oboe und Celli das elegische Thema im Balladenton anklingen ließen, in die kreisende Motivik der langsamen Einleitung vom Beginn der Symphonie zurücksinkt? Dann ein ähnlicher Rückgriff noch einmal im Scherzo: Die von zarter Ornamentik der Solo-Violine umrankte absteigende Linie im Trio war doch schon im Mittelteil der Romanze zu hören? Faszinierend, wie alles miteinander verbunden ist, und wie die Sätze fließend ineinander übergehen. Aber mit dieser Symphonie führte Schumann einen auch in ein wahres Labyrinth, und manchmal wusste man nicht mehr recht, wo man sich befand. »Die Hörer wurden […] sichtlich überrascht, da er [Schumann] die Sätze verbunden hatte, und viele Konzertbesucher in Verlegenheit brachte, denn Manche glaubten in ihrer musikalischen Weihe, die ganze Symphonie sei ein etwas langer erster Satz«, berichtete der Korrespondent von und für Deutschland über die Uraufführung des Werks.
Neuinstrumentierung des kühnen Wurfs von einst
Schumann selbst hatte keine Zweifel an der Qualität seiner neuen Symphonie. Dass sie nicht ebenso positiv aufgenommen worden war wie die Erste, schrieb er vor allem den Umständen der Aufführung zu: »Es war eigentlich zu viel auf einmal – glaub’ ich – und dann fehlte Mendelssohn als Dirigent. Das schadet aber alles nichts – ich weiß, die Stücke stehen gegen die 1ste keineswegs zurück und werden sich früher oder später in ihrer Weise geltend machen«, äußerte er im Januar 1842 in einem Brief an seinen Kritiker-Kollegen Carl Koßmaly. Auch eine Publikation der Symphonie versuchte Schumann voranzutreiben, und erst nachdem der zweite Versuch gescheitert war, legte er das Werk beiseite. Was ihn dazu veranlasste, sich die Symphonie im Dezember 1851, zehn Jahre nach ihrer Entstehung, wieder vorzunehmen, muss Spekulation bleiben. Martin Demmler vermutet, dass die Orchestrierung einer nicht vollendeten Symphonie von Norbert Burgmüller Schumanns Interesse an seinem eigenen Werk wieder entfacht haben könnte, zumindest liegen zwischen dieser Arbeit und der Wiederaufnahme der d-Moll-Symphonie nur wenige Tage. Schumanns eigene dirigentische Tätigkeit als Städtischer Musikdirektor in Düsseldorf seit 1850 dürfte ebenfalls eine Rolle gespielt haben. Doch wahrscheinlich waren es nicht zuletzt ästhetische Motive, die ihm den kühnen Wurf von einst wieder in Erinnerung riefen. Was er 1841 in der d-Moll-Symphonie so verstörend modern verwirklicht hatte – die Idee der zyklischen Verkettung der Sätze durch ein werkumspannendes Netz von thematischen Beziehungen – blieb für Schumann zeitlebens ein zentrales kompositorisches Anliegen. Am 12. Dezember 1851 begann er mit der »Reinstrumentation d. alten 2ten Symphonie«, die er für »freilich besser und wirkungsvoller« als die frühere Fassung erachtete – auch wenn dies in der Fachwelt damals wie heute oft anders beurteilt wurde. Die Struktur der Symphonie ließ er dabei weitgehend unangetastet. Bezeichnend ist, dass er das Manuskript der Neufassung mit »Symphonistische Phantasie« bzw. »Phantasie für Orchester« überschrieb, bevor das Werk schließlich als »Symphonie Nr. IV, D moll. Introduction, Allegro, Romanze, Scherzo und Finale in einem Satze« gedruckt wurde.
Poetisches Spiel mit verschiedenen Zeitebenen
Obwohl er die klassischen Satztypen in Grundzügen wahrte, hat sich Schumann in keiner seiner Symphonien weiter von der traditionellen symphonischen Form entfernt als in seiner später als Nr. 4 gezählten in d-Moll. Als er sich 1841 der Gattung zuwandte, stand ihm das »Ideal einer modernen Sinfonie, die uns nach Beethovens Hinscheiden in neuer Form aufzustellen beschieden ist« zwar schon lange vor Augen. Doch erst sein epochaler Fund von Schuberts Großer C-Dur- Symphonie 1839 in Wien, deren »völlige Unabhängigkeit« von Beethoven er zutiefst bewunderte, hatte ihn »wieder in die Füße gestachelt, nun auch bald an die Symphonie zu gehen«. Gerade mit seiner d-Moll-Symphonie sollte Schumann den Beweis erbringen, dass es möglich war, die Prinzipien, die Beethoven zu idealtypischer Ausprägung geführt hatte, durch andere Sinnzusammenhänge zu ersetzen. An die Stelle eigenständiger, kontrastierender Themencharaktere treten satzübergreifende thematische Transformationen und Ableitungen aus kleinsten melodischen Zellen. Die motivische Arbeit und der stringente lineare Prozess weichen dem Prinzip der Überlagerung von verschiedenen Ebenen des Fortschreitens. Augenblick und Erinnerung, tatsächliche und imaginierte Zeit sind poetisch ineinander verschlungen, und die einzelnen Teile scheinen auf geheimnisvolle Weise miteinander zu kommunizieren. »Die Musik schreitet nicht wie bei Beethoven von A nach B fort, sondern dreht sich wie in Spiralen«, äußerte der Schumann-Kenner Heinz Holliger einmal über das Werk.
Allgegenwärtiges Hauptthema
Nicht ohne Grund rangierte die Introduktion (Ziemlich langsam) schon in der Formulierung des Erstdrucks als eigener Teil des Zyklus. Nahezu alle Themen der Symphonie erweisen sich als Ableitungen der beiden hier exponierten Motive, die nicht zufällig auch melodisch Kreisbewegungen beschreiben. Zunächst erklingen wellenförmige Achtelgänge, die sich in kleinen Tonschritten vorantasten, ein »form- und zweckvergessenes, gleichsam auf endlos gestelltes« Gebilde (Siegfried Oechsle), das die Musik in einem Zustand des Schwebens hält. Das zweite Motiv, eine aufsteigende Sechzehntelfigur mit anschließender Drehbewegung – schon dies eine Ableitung aus dem vorherigen Motiv –, dient bereits der Beschleunigung und Hinführung zum schnellen Tempo des ersten Satzes (Lebhaft), dessen Exposition es dann auch nahezu alleine bestreitet. Der Seitensatz bringt zwar die zu erwartende Dur-Tonart, aber keine wirkliche neue thematische Gestalt. Auch die Durchführung verweigert die gewohnten Kategorien. Das Thema bleibt weiterhin allgegenwärtig, ohne im eigentlichen Sinne durchgeführt zu werden, und ein ganzer Abschnitt von 74 Takten wird einfach um eine Terz nach oben versetzt wiederholt – so kommt nicht nur das Thema, sondern auch die Form im Ganzen nicht recht von der Stelle. Doch gerade dann ereignet sich der entscheidende Moment des Satzes: Vorbereitet von Posaunen- Rufen und markanten Fanfaren, erblüht endlich in den Ersten Geigen und Holzbläsern »dolce« ein zartes, schwärmerisches zweites Thema. Die durch diese späte Erfüllung freigesetzte Euphorie trägt den Satz – ohne Reprise – in einer großen Steigerung auf hymnische Höhen in D-Dur. Majestätisch punktiert erstrahlt das neue Thema im Fortissimo des vollen Orchesters.
Blick in die Vergangenheit
Als wisse sie nicht recht, was nach so viel Glück des Augenblicks anzufangen sei, tritt die Musik nun völlig abrupt, beinahe verschreckt aus dem Kontinuum des bisherigen Geschehens heraus, um sich in die versonnene Welt der Romanze zurückzuziehen. Der Satz, den Schumann hier folgen lässt, ist weit mehr als das in Tempo, Dynamik und Ausdruck kontrastierende Stück, wie es die Form verlangt. Er führt nicht nur in ein anderes Gebiet, sondern auch in eine andere Zeit. Der Balladenton kündet von einer fernen Vergangenheit, deren eigene Zeiteinheit durch den Wiederaufgriff der Introduktion noch einmal durchbrochen wird, »eine Erinnerung in der Erinnerung« (Akio Mayeda).
Hoffnungsvolle Gegenwart
Zwar kehrt das Scherzo mit seinem zupackenden Schwung in die symphonische Gegenwart zurück, doch auch hier durchbricht das Echo vergangener Ereignisse, der bereits erwähnte Rekurs auf den Mittelteil der Romanze, den realen Verlauf. Schließlich ist es das Thema des ersten Satzes, das in der Überleitung zum Finale (Lebhaft) zurück ins Hier und Jetzt führt – ein punktierter Terzaufstieg in Hörnern und Posaunen verleiht der Stelle visionäre Weihe. Und nachdem das Thema damit den Faden vom Beginn aufgenommen hat, darf sich die Symphonie endlich von ihm befreien. Nur noch vier Takte »überlebt« es, danach übernehmen andere Gedanken die Führung. Auch sie sind Abwandlungen vorherigen Materials, wobei durch ihr verändertes klangliches und rhythmisches Gewand sowie durch das Vorherrschen der Dur-Tonart der Eindruck des Neuen entsteht. Auch erscheint das Finale trotz einiger formaler Korrespondenzen zum Kopfsatz insgesamt vielgestaltiger, beweglicher und gelöster. Es gibt ein gesangliches Seitenthema, der Ton energetischer Hochspannung vom Ende des Kopfsatzes kann sich endgültig durchsetzen, und noch in der Coda wird eine neue unbeschwerte Melodie geboren. Die Musik ist vollends in einer hoffnungsvollen Gegenwart angekommen.