Lebensdaten des Komponisten
7. März 1875 in Ciboure (Département Basses-Pyrénées) – 28. Dezember 1937 in Paris
Entstehungszeit
1908 bis 1910 (Klavierfassung)
1911 (Orchesterfassung und Ballettfassung)
Uraufführung
20. April 1910 in Paris (Klavierfassung)
28. Januar 1912 in Paris (Ballettfassung)
Das Werk beim BRSO
Erstaufführung: 20./21./22. Dezember 2018 in der Münchner Philharmonie im Gasteig unter David Robertson
Zuletzt auf dem Programm: 19./20. Juli 2020 in der Münchner Philharmonie im Gasteig unter Simon Rattle (unter Corona-Auflagen)
Ma mère l’oye entstand in den Jahren 1908 bis 1910 als Klavierkomposition für vier Hände und war ein Geschenk für die Kinder des polnischen Ehepaars Godebski, bei dem Maurice Ravel zu dieser Zeit ein- und ausging. Das kultivierte Haus von Ida und Cyprien Godebski in der Rue d’Athènes in Paris war damals ein beliebter Treffpunkt für die intellektuelle und künstlerische Elite der Seine-Metropole, es stand Jean Cocteau, André Gide und Paul Valéry ebenso offen wie den Komponisten Darius Milhaud, Georges Auric, Erik Satie, Manuel de Falla und Igor Strawinsky. Mit Kindern soll der zierliche, nur 1,61 Meter große Maurice Ravel immer ein herzliches, unkompliziertes Verhältnis gehabt haben, vielleicht, weil sie klein waren wie er. Es wird berichtet, dass der Komponist, der noch als Erwachsener eine eigene Spielzeugsammlung besaß, bei Abendgesellschaften nicht selten in den Kinderzimmern seiner Gastgeber wiederzufinden war, beschäftigt mit Geschichtenerzählen und Kinderspielen. In welchem Maß er sich die eigene Kindheit tief in seinem Inneren bewahrt hatte, davon künden Ravels fünf Klavierduette Ma mère l’oye auf wundersam entrückte Weise. »Es war meine Absicht, die Poesie der Kindheit wachzurufen«, schrieb Ravel, »und dies führte natürlich dazu, dass ich meinen Ausdruck und Schreibstil vereinfachte«.
Fragile Märchengestalten und magische Wunder sind Teil der von Charles Perrault zusammengetragenen französischen Märchensammlung Les contes de ma mère l’oye aus dem17. Jahrhundert, die ihm neben Erzählungen von Marie-Catherine d’Aulnoy (um 1650–1705) und Jeanne-Marie Leprince de Beaumont (1711–1780) als Vorlage diente. Der Titel Ma mère l’oye ist irreführend, meint er doch wörtlich »Meine Mutter, die Gans«, wobei diese lediglich als Erzählerin der Märchen fungiert. Treffender wäre also etwa eine Übersetzung mit »Mutter Gans erzählt«. Die Kinder Mimi und Jean Godebski, denen Ravel diese pianistischen Adaptionen traditioneller französischer Märchen zugedacht hatte, mögen hingerissen gewesen sein. An die musikalische Uraufführung der fünf Klavierduette am 20. April 1910 in Paris wagten sich indes größere Kinder: die elfjährige Jeanne Leleu, eine Schülerin der berühmten Pianistin und Klavierpädagogin Marguerite Long, und die zehnjährige Germaine Durony. Auch wenn Ravel erklärt hatte, in den Cinq pièces enfantines seine »Schreibweise durchsichtiger« gemacht zu haben – um leichte Kinderstücke handelt es sich hier schon aufgrund der verlangten Virtuosität keineswegs.
Vom Klavierduett zum Ballett
In der fünfsätzigen Originalgestalt als Klavierduett besticht Ma mère l’oye durch Transparenz. Ravels Verleger Durand aber witterte in diesen Klavierstücken das Potenzial für eine Orchesterfassung, die Ravel 1911 einrichtete und die heute zumeist gespielt wird. Auf Wunsch des Impresarios Jacques Rouché erweiterte der Komponist diese Orchestersuite im selben Jahr jedoch noch zu einem Ballett in sechs Tableaux, indem er ein Prélude, den Tanz des Spinnrades (Danse du Rouet et Scène) sowie Zwischenspiele hinzufügte und die originale Satzfolge umstellte.
Tanz des Spinnrades und Szene
Nach dem getragenen Prélude, das bereits alle wichtigen Themen der nachfolgenden Bilder anklingen lässt, entledigt sich im Danse du rouet et scène eine alte Dame am Spinnrad, musikalisch symbolisiert durch Triller, auf wundersame Weise ihrer alten Kleider und präsentiert sich in kostbaren Gewändern.
Pavane des im Wald schlafenden Dornröschens
In der Pavane de la Belle au bois dormant (ehemals der Eröffnungssatz) wird der Zauber eines verwunschenen Schlosses und Waldes heraufbeschworen, im Tonfall verhalten und melancholisch, einfach und zart.
Die Unterhaltungen zwischen der Schönen und dem Untier
Zwei Melodien und die Klangfarben der Instrumente versinnbildlichen im dritten Satz (zuvor Satz 4) Les entretiens de la Belle et de la Bête. Sie sind dem 1757 veröffentlichten Magasin des enfants von Marie Leprince de Beaumont entlehnt und der Komposition in einem dreiteiligen Auszug vorangestellt. Die Musik folgt der Gliederung dieser Vorgabe. Zunächst erkennt das Mädchen das »gute Herz« des Untiers, seine von Harfen begleitete Klarinetten-Melodie ist lieblich und steht im Walzerrhythmus: »Wenn ich an Ihr gutes Herz denke, erscheinen Sie mir nicht hässlich.« Mit einem zärtlich-brummenden Kontrafagott-Solo, einer absteigenden Linie im Triolen-Rhythmus, antwortet das Tier, als wolle es schon jetzt signalisieren, für die spätere Rückverwandlung in einen schönen Prinzen bereit zu sein. Doch es stellt zunächst die fatale Frage: »Belle, wollen Sie meine Frau werden?« und erhält eine Absage. Es folgt erneut der Walzer-Gesang vom Beginn, wobei die Schöne diesmal vom Bass des Tieres begleitet wird. Im dritten Teil dann bekennt das Biest: »Ich sterbe zufrieden, denn ich habe das Glück, Euch noch einmal zu sehen.« – »Nein, mein liebes Untier, du wirst nicht sterben: Du wirst leben, um mein Gemahl zu werden!« Nach ihrem erlösenden Kuss verschwindet das Ungeheuer und wird zurückverwandelt in einen eleganten, Violine spielenden Prinzen, »schöner als die Liebe zu ihren Füßen«.
Der kleine Däumling
In der Erzählung von Perrault, auf der Petit Poucet (in der Klavierfassung Satz 2) beruht, betritt tippelnden Schrittes der Däumling in der musikalischen Gestalt einer Oboe die Szene: Er streut zur Markierung Brotkrumen, um aus dem Walddickicht wieder herauszufinden, die jedoch von Vögeln gefressen werden. Alle wichtigen Momente seines Irrwegs sind von Ravel musikalisch eingefangen, von den gierigen Vögeln in den Holzbläsern bis zum gehetzten Umhersuchen des Däumlings am Schluss.
Laideronnette, Kaiserin der Pagoden
In eine fremde Welt entführt dann der chinesische Marsch Laideronnette, impératrice des pagodes, ursprünglich der dritte Satz. Die Badezeremonie der Kaiserin wird graziös begleitet vom Gesang und Spiel der Pagoden und Pagodinnen, »einige hatten Theorben aus Nussschalen, einige Violen aus Mandelschalen«, heißt es in der 1698 erschienenen Märchensammlung von Marie-Cathérine d’Aulnoy, die als Vorlage diente. Die Musik basiert auf der pentatonischen Leiter und lässt mit der Beharrlichkeit ihres Ablaufs an eine chinesische Spieluhr denken, helle Spielfiguren in der Flöte imaginieren die winzigen Instrumente der Pagodenbewohner, Schlaginstrumente wie Xylophon und Woodblocks und die an ein Glockenspiel erinnernde Celesta sorgen für exotisches Kolorit.
Feengarten
Der Jardin féerique, ehemals Satz 5, steigert als Apotheose mit warmen impressionistischen Klängen noch das märchenhafte Wunder der Prinzwerdung. Glissandi führen in eine jubelnde farbenprächtige Glückseligkeit in C-Dur: Eine Vision tiefer Ruhe tut sich auf in diesem Zauberreich, das als Sarabande gefasst ist. Hiermit knüpft Ravel, wie schon in der Pavane zu Beginn, abermals an die Formenwelt des 18. Jahrhunderts an.