»Ging heut’ morgen über’s Feld« singt der Protagonist der Lieder eines fahrenden Gesellen, eine Melodie, zu der man am liebsten gleich mitmarschieren möchte. Es ist der Aufbruch in eine schöne, frühlingshafte Welt, ein blühendes Versprechen von Glück, und mit dieser frischen, frohgemuten Melodie setzt Mahler auch seine Erste Symphonie in Gang. In fast allen folgenden Werken spielen Märsche immer wieder eine tragende Rolle, mit Grenzen sprengender Vitalität in der Dritten, mit abgründiger Trauer in der Fünften. Wo es bei Mahler um Leben und Tod geht, wird marschiert. Er selbst, berichtet der eng mit ihm verbundene Bühnenbildner Alfred Roller, war ein »leidenschaftlicher Fußgeher«, dessen Spaziergänge und Bergwanderungen nicht am Normalmaß zu messen waren: »Denn man konnte mit ihm ein sehr flottes Marschtempo gehen, ohne daß ihm das lästig wurde. Im langsamen Schreiten setzte er, beinahe zierlich, einen Fuß vor den anderen und streckte die Beine in den Kniekehlen stramm. […] Im Eilschritt aber […] trug er den Oberkörper leicht vorgeneigt, das Kinn vorgestreckt und trat fest, fast stampfend auf. Diese Gangart hatte etwas Stürmisches, etwas ausgesprochen Triumphales.« Auf Fotos aus dem Jahr 1904, die Mahler auf dem Weg in der Wiener Hofoper zeigen, sieht man ihn tatsächlich heftig ausschreiten.
Marschierende Soldaten
Mahlers Vorliebe für Märsche verdankt sich auch kindlicher Prägung, denn in seiner Heimatstadt Iglau (heute Jihlava, Tschechien) war ein Infanterie-Regiment samt Militär-Kapelle stationiert. Sein enger Freund Bruno Walter berichtet: »Als er zwei Jahre alt war, pflegte ihn eine Bedienerin auf einem Kasernenhof allein zu lassen, um mit ihrem Soldaten zusammen zu sein – und er hörte Trommeln und Trompetensignale und sah marschierende Soldaten.« Als Vierjähriger lief er dann der Regimentskapelle nach und spielte die Melodien auf seiner Ziehharmonika mit. Im Sommer 1866 konnte er im Zuge des Preußisch-Österreichischen Krieges auch größere Truppen- bewegungen sehen, und nach der verlorenen Schlacht bei Königgrätz auch verwundete Soldatenund erbärmlich dezimierte Regimenter. Es ist also keineswegs Militarismus, wenn Mahler aus dieser Klangwelt schöpft. Einem Ur-Erlebnis entsprungen, gehört sie zu seiner musikalischen Muttersprache.
In einer nationalistischen, säbelrasselnden Epoche delektierte man sich gerne an »flotter« Marschmusik. Mahler aber entdeckte darin ein tiefgründiges Ausdruckspotenzial vom Hellsten zum Finstersten des Lebens. So brachte er bereits in seinen Soldatenliedern das Grauen des Krieges zum Klingen. Die Revelge etwa handelt von einem sterbend zurückgelassenen Soldaten. Niemand vor und neben Mahler hat derart die Abgründe dieser Musikform ausgelotet. Und keine Mahler- Symphonie wird so stark vom Marsch beherrscht wie die Sechste.
Der erste Satz – »Augenblicke des Zertrampelns«
Mit starren, unerbittlichen Taktschlägen setzt sich der erste Satz (Allegro energico) in Bewegung. Der Anfang ruft die Revelge in Erinnerung, vor allem die Stelle vor dem Vers »Ich muß marschieren bis in Tod«, aber im Hauptthema der Symphonie mit den wuchtigen Oktaven steckt noch weit mehr Gewalt als im Lied, vorwärtsdrängend und niederreißend zugleich. Die in der Symphonik äußerst seltene Tonart a-Moll verschärft diesen Charakter. Mahler benutzt sie auch anderen Orts (Fünfte Symphonie: zweiter Satz; Lied von der Erde: erster Satz) für extrem gespannte Gefühlslagen zwischen Schrecken und Verzweiflung, und er erzielt damit einen schroffen, harten Klang, der sich bisweilen scharf ins Gehör schneidet. So rückt auch der Marsch, dumpf bis grell instrumentiert, in ein bedrohliches Zwielicht. Als ob es sich in seiner Stoßkraft selbst nicht zusammenhalten kann, zerbirst das Hauptthema in stürzenden Kaskaden, in denen es dann auch verebbt. Nun folgt ein Signal, das für die ganze Symphonie entscheidende Bedeutung hat: Zu den hart im Marschrhythmus geknüppelten Pauken erstrahlt ein Trompetenakkord, der plötzlich in trübes Moll umschlägt. Wie ein Menetekel, ein Unheil verkündendes Zeichen, schreckt dieses Signal den Hörer auf.
Ungebrochen positiv, mit leidenschaftlichem Schwung, artikuliert sich erst das Seitenthema. Damit habe Mahler seine Ehefrau Alma porträtiert, heißt es nach Auskunft derselben. Wie auch immer, rein dramaturgisch dient das Thema dazu, der rhythmischen Gewalt nun eine melodisch- gesangliche Kraft entgegenzusetzen. Wenngleich selbst von Zügen des Marsches geprägt, nimmt es auch lyrische Gestalt an und lässt den ersten Teil des Satzes besänftigend zur Ruhe kommen. Im langen Mittelteil geraten beide Kräfte aneinander, bis sich das Alma-Thema in eine geheimnis- volle Klanglandschaft zurückzieht. Obwohl Herdenglocken sie durchtönen, ist das keine Alm- romantik mit Kühen. Arnold Schönberg bewundert hier, wie ein »kühler, eisiger Trost von einer Höhe aus gespendet wird, […] den nur der hört, der versteht, was, ohne animalische Wärme, höhere Stimmen flüstern.« Auf jeden Fall gewährt dieses stille Gebiet eine Ruhe, die nicht von dieser Welt scheint. Doch nach dem Gesetz der Reprise muss der Marsch zurückkehren, und er tut es mit verstärkter Gewalt. Der große Mahler-Exeget des 20. Jahrhunderts Theodor W. Adorno meint, dass der Marsch eine ungute, destruktive Masse verkörpere: »Die Extreme ihres kollektiven Zuges […] sind jene Augenblicke, wo der blinde und gewalttätige Marsch der Vielen dazwischenfährt: Augenblicke des Zertrampelns.« Am Ende des Satzes kann sich dann doch das Alma-Thema durchsetzen, stürmisch und triumphal. Die Melodie jubelt in strahlendem A-Dur – ein vorläufiger Sieg der besseren Kräfte.
Die Mittelsätze – Schönheit und Schrecken
Reine Lyrik, dem Melos innig anvertraute Empfindung, ist allein dem langsamen Satz vorbehalten. Als solcher gehört er zwar fest zum »klassischen«, viersätzigen Zyklus dieser Symphonie, aber er klinkt sich auch bewusst daraus aus. Mit seiner Tonart Es-Dur steht er der Grundtonart a-Moll denkbar fern. Das Andante moderato ist damit eine Klangwelt für sich, ist nicht der voran- schreitenden Logik des Marsches unterworfen. Nur so ist es möglich, noch einmal ausgiebig von Seele, Liebe und Glück zu singen, Erfüllung zu finden, sich in eine schwerelos entrückte Idylle zu betten. Wenn auch schon Trauer mitschwingt – noch einmal steht die Welt still in ihrer Schönheit.
Doch dann geht es gleich in demselben unbarmherzigen Tritt weiter, mit dem der erste Satz begonnen hatte. Selbst das Scherzo huldigt »wuchtig« dem alles beherrschenden Marsch, verwandelt in einen grausigen Tanz, in ein wüstes, irres, gespenstisches Treiben und Stampfen. »Wie gepeitscht« sollen die Oktav-Vorschläge ausgeführt werden, zu immer neuen grotesken, schaurigen Klängen vereinen sich die Instrumente. So feiert der kollektive Wahnsinn. Nur mehrironisch formiert sich daneben ein gemütlicher Ländler. Sein Rhythmus aber ist durch Taktwechsel derart beschädigt, dass man dazu gar nicht mehr richtig tanzen kann. Mahler war sich zunächst nicht ganz klar, wo er dieses seltsame Scherzo hinstecken solle: In der Partitur ließ er es vor dem Andante drucken, in den eigenen Aufführungen dirigierte er es an dritter Stelle. Dort, nach der langen Ruhephase des Andante, wirkt es umso eindringlicher.
Das Finale – Sieg der Finsternis
Mahlers Auskunft, die Sechste werde »Rätsel aufgeben, an die sich nur eine Generation heranwagen darf, die meine ersten fünf […] verdaut hat«, trifft am ehesten das gewaltige Finale. An diesem Punkt löst sich gewöhnlich die Spannung einer Symphonie, dunkle Energie wird durch die Wendung in die Dur-Tonart neutralisiert, es siegt das Licht über die Finsternis. Letztmals mit einer hymnischen Apotheose gekrönt war Mahlers Dritte, in der Vierten sang ein humoristisch- hintergründiges Lied das Paradies herbei, und in der Fünften war die Apotheose ironisch gebrochen. Nun wählt Mahler einen völlig neuen, radikalen Weg, um das abgedroschene Schema zu umgehen. Er kehrt es geradezu um: Vom bereits im ersten Satz erreichten A-Dur führt dieser Weg zurück ins a-Moll. In drei Wellen entfaltet sich ein langer, gewundener Prozess dorthin. Am Anfang öffnet sich eine weite Fläche, auf der nur thematische Bruchstücke auszumachen sind. Wiederholt flammt das Menetekel aus dem ersten Satz auf. Ein dumpfer Bläserchoral zitiert aus dem fünften Satz der Dritten Symphonie, wo es heißt: »Und sollt ’ich nicht weinen, du gütiger Gott.«
Durch die desolate Einleitung geistern aber auch Fetzen einer neuen Marschmelodie, die bessere Aussichten verspricht. Auch der Marsch im schnellen Hauptteil (Allegro moderato) führt immer wieder zu Lichtblicken, frohgemut und in heller Harmonie. Manchmal bricht euphorische Hoffnung durch, oder der hymnische Gipfel scheint schon in Sichtweite. Doch im Ganzen bleibt der Marsch ein kompliziert verwickeltes Gegeneinander von Gestalten, die sich immer wieder verzerren, verrennen und verkeilen. Statt des erhofften Durchbruchs kommt es wiederholt zum Zusammenbruch, der den Marsch in die trostlose Einleitung zurückwirft. Und in diesen Zusammenbrüchen steckt die ganze Gewalt der marschierenden Massen. Die zwei spektakulären Hammerschläge, »wie ein Axthieb« auszuführen, spalten den Orchesterklang auf, und für einen Moment schlägt die im Medium der Kunst gebannte Brutalität physisch durch. Mahlers Biograph Jens Malte Fischer hat das ganze Finale treffend zusammengefasst: »Das, was der Marsch des ersten Satzes angekündigt hatte, aber von dem zu hoffen war, dass es doch so schlimm nicht kommen würde, kommt schlimmer als vorstellbar.« Wenn das Menetekel am Ende noch einmal die ersterbende Musik durchzuckt wie ein Elektroschock, wird es zum Siegel restloser Vernichtung.
Es erscheint wirklich rätselhaft, dass Mahler dieses Weltuntergangsfinale in seinem wohl glücklichsten Sommer, 1904, komponierte. Alma hatte gerade die zweite Tochter zur Welt gebracht, und ausnahmsweise verlief das Eheleben harmonisch. Stolz meldete Mahler von seinem idyllischen Feriendomizil, »was für ein schönes Spielplatzel wir für unser Putzel [die erste Tochter] hergerichtet haben.« In Ermangelung biographischer Hintergründe erklärte Alma deshalb, die Symphonie ahne kommende Schicksalsschläge herbei. Man hat Mahlers Sechste auch als Prophezeiung der Katastrophen des 20. Jahrhunderts empfunden – als ob sich der Marsch im ersten Satz schon auf den Weg in den Ersten Weltkrieg mache. Belegen lassen sich solche nachträglichen Spekulationen nicht.
Auf jeden Fall zeigt Mahler, dass die Entwicklungslogik einer Symphonie nicht zwangsläufig zu einem glücklichen Ende führen muss, wie es die Tradition vorsieht. Die Sechste marschiert buchstäblich in die Katastrophe, folgt radikal und bis zum bitteren Ende einer negativen, destruktiven Eigendynamik, wie sie manchmal auch die menschliche Zivilisation erfasst. Musikalisch-künstlerisch funktioniert das mit blendender Stringenz und faszinierender Wirkung. Zu hoffen bleibt, dass man so etwas nicht wieder in Wirklichkeit erleben muss.