Lebensdaten des Komponisten
20. Januar 1855 in Paris – 10. Juni 1899 in Limay (Département Yvelines)
Entstehungszeit
1889/1890
Widmung
Seinem Schwager, dem Maler Henry Lerolle
Uraufführung
18. April 1891 in einem Konzert der Société National de Musique in Paris unter der Leitung des Komponisten
Das Werk beim BRSO
Erstaufführung
Mit dem Nachruhm ist es dem Franzosen Ernest Chausson ähnlich ergangen wie seinem Landsmann Paul Dukas und dessen Zauberlehrling: Auch Chausson hat hierzulande hauptsächlich mit nur einem Werk überlebt, seinem klangschönen, rhapsodischen Poème für Violine und Orchester von 1896, das auf einer Erzählung Turgenjews basiert und bei Geigern ein beliebtes Repertoirestück ist. Dabei stammen aus seiner Feder weit mehr Werke, die mindestens ebenbürtig sind. Seine 1890 vollendete dreisätzige Symphonie B-Dur op. 20 ist eines davon: beseelt und packend, mit ausgedehnten Themen und Spannungsbögen, raffinierter Orchestrierung, kühner Harmonik und, bei aller Vielfalt der Stimmungen, einer bezwingenden Dramaturgie.
Gleich nach der Pariser Uraufführung im April 1891, die Chausson selbst dirigierte, wurde seine erste und einzige Symphonie als Schlüsselwerk der französischen Symphonik des 19. Jahrhunderts erkannt: »Bewusster, klarer und farbiger« als zuvor würde sich hier seine Künstlerpersönlichkeit offenbaren, befand ein Rezensent, »es handelt sich jedenfalls um ein bedeutendes Werk von großartigem und schönem Zuschnitt, das unserer Schule alle Ehre erweist.« Mit einem Gastspiel der Berliner Philharmoniker in Paris unter der Leitung des international gefeierten Arthur Nikisch 1897 erfuhr die rund halbstündige neue Symphonie noch einmal zusätzliche Bekanntheit und wurde im Laufe des letzten Jahrhunderts von Dirigenten wie Dimitri Mitropoulos, Pierre Monteux, Charles Dutoit, José Serebrier, Charles Munch und Armin Jordan geschätzt und aufgeführt.
In fast allen Genres hat Chausson Werke von großer Meisterschaft hinterlassen, obwohl er sich als über Zwanzigjähriger erst recht spät der Musik zuwandte und ein Fahrradsturz mit tödlichem Schädelbruch am 10. Juni 1899 in Limay bei Mantes-la-Jolie seinem Leben mit nur 44 Jahren ein jähes Ende setzte. Hierzu gehören neben der Symphonie B-Dur und dem Poème op. 25 kammermusikalische Werke wie das Konzert für Violine, Klavier und Streichquartett (1889–1891). Oder seine melancholisch verschatteten Lieder, die ihn als Vertreter des französischen »Wagnérisme« ausweisen bzw. Nähe zum frühen Fauré zeigen, wie Le Colibri von 1882. Allesamt Kompositionen, die nur selten im Konzert erklingen. Auch seine Orchesterlieder, am bekanntesten das sehnsüchtig-schwermütige Poème de l‹amour et de la mer (1882–1890), seine Symphonischen Dichtungen, etwa Viviane von 1882 oder Soir de fête von 1893, und vor allem sein eigentliches Hauptwerk, die Oper Le roi Arthus, die unter dem Einfluss Wagners auf ein eigenes Textbuch entstand und 1894 nach neunjähriger Arbeit vollendet wurde, werden zu Unrecht kaum aufgeführt.
Umgeben von Künstlern
Am 20. Januar 1855 in Paris als Sohn reicher Eltern geboren, auch literarisch und zeichnerisch sehr begabt, fand Chausson nach einem Jurastudium und ersten autodidaktischen Versuchen erst 1879 ernsthaft zur Musik. Schon nach der »licence en droit« hatte er beschlossen, sich »ganz allein auf jenen schwierigen Weg zu begeben, der ein Innehalten auf halber Strecke nicht gestattet.« Und weiter erkannte er: »Es braucht mehr Kraft und Mut, ein Kunstwerk zu schaffen, als ein Examen zu bestehen.« Für kurze Zeit besuchte er am Pariser Conservatoire dieInstrumentationsklasse von Jules Massenet, bis 1883 studierte er dann bei César Franck, zu dessen engagiertem Vorkämpfer er wurde. Seit 1883 war er glücklich verheiratet mit der Musikerin Jeanne Escudier, mit der er fünf Kinder hatte, 1886 wurde er schließlich zum Generalsekretär der Société Nationale de Musique berufen. Ererbter Reichtum – der Vater war Bauunternehmer, die Mutter entstammte einer Notarsfamilie – erlaubte ihm ein Leben in finanzieller Unabhängigkeit.
In seinem Pariser Haus ging die künstlerische Elite Frankreichs in den 1880er und 1890er Jahren ein und aus: die Literaten Mallarmé, André Gide und Colette besuchten seinen Salon und seine Konzerte, die Maler Degas, Manet, Redon, Renoir und der Bildhauer Rodin waren bei ihm zu Gast, ebenso die Komponisten Franck, Duparc, Messager, Debussy, Dukas, Albéniz, Widor und Ravel oder die Virtuosen Ysaÿe, Thibault und Alfred Cortot. Neben Massenet und Franck empfing Chausson wichtige Impulse für sein Komponieren von Richard Wagner, dessen Musikdramen er ab 1879 auf Reisen nach München und Bayreuth kennenlernte, den Fliegenden Holländer, den Ring des Nibelungen, Tristan und Isolde oder auch Parsifal.
Vorbilder Wagner, Franck und Debussy
Als Komponist arbeitete Chausson sehr langsam. Sein Œuvre ist schmal, er überarbeitete seine Werke penibel über Monate und Jahre hinweg. Dabei war das Vorbild Wagners für den ohnehin von Selbstzweifeln und Skrupeln geplagten Chausson von drückendem Gewicht: »Neben einigen bedeutenden Männern gibt es Tausende von kleinen Ameisen, die vergeblich schuften und fleißig schwitzen; was sie schaffen, hat keine große Tragweite, es ändert nichts, und dennoch können sie nichts anderes tun«, klagte er. »Warum zum Teufel gehöre ich zu dieser Sorte von Dummköpfen?« Auf der anderen Seite erkannte er klar, worauf es beim Komponieren ankommt: »Man ist nicht ein Meister des Gedankens, solange man nicht ein kompletter Meister der Form ist«, diesem von Robert Schumann übernommenen Leitsatz folgte er sehr früh.
Obgleich Chaussons Schaffen nur eine kurze Zeitspanne umfasste, durchlief es doch eine Entwicklung. In seinem letzten Lebensjahrzehnt entstanden Werke vor allem für Orchester, die sich mit ihrer Rückbesinnung auf klare, prägnante Formen von seinen früheren, dramatischeren und ausgedehnteren Kompositionen absetzen. In der Zeit, die ihm blieb, überwand Chausson den Einfluss Wagners und fand zu einer entschlackten, eindringlichen und sehr persönlichen Tonsprache, die ihm eine stilistische Stellung zwischen César Franck und Claude Debussy sichern sollte.
Ringen um die passende Form
Seine einzige Symphonie ist hierfür das beste Beispiel. Sie wurde innerhalb von 15 Monaten komponiert, begonnen im September 1889, abgeschlossen im Dezember 1890. Ernst und gefasst ist die gewichtige langsame Einleitung, die mit Klarinetten, Hörnern und tiefen Streichern beginnt und den Klangteppich ausrollt für eine unendlich scheinende Melodie. Im anschließenden Allegro vivo erklingt das lebhafte Hauptthema erstmals in Fagott und Horn. Zugleich wird in diesem Satz die Terz als konstituierendes Intervall etabliert, aus dem sich erfindungsreich weiteres Material der Symphonie speisen wird. Tempowechsel, Instrumentalsoli, vor allem vom Englischhorn, und choralartige Bläsersätze sorgen für strukturierende Abwechslung und subtilen Farbenreichtum.
Mit dem bekenntnishaften zweiten Satz Très lent tat sich Chausson schwer, wie der Briefwechsel mit seinem Schwager, dem Maler Henry Lerolle, dem das Werk gewidmet ist, zeigt. In der Satzmitte steckt Chausson plötzlich fest und entwirft eine vorläufige Ersatzpassage, nur um weiterzukommen. »Ich muss es auslassen, oder, falls ich es schaffe, eine passende Brücke bauen und den Schluss dann glätten. Und doch glaube ich noch, dass ich durchkommen werde. Gleichzeitig bescherst du mir eine furchtbare Zeit. Und es ist noch nicht vorbei. Bete für mich, dass ich etwas Gutes für das Finale finden werde, ansonsten werde ich dich mit Briefen, mit Telegrammen, auf jedem erdenklichen Weg beschimpfen.« Viele Skizzen und Entwürfe belegen die künstlerische Blockade und das Ringen um eine passende symphonische Form. Auch das schmerzliche Hauptthema basiert wieder auf dem Terz-Intervall; nach einem bewegten Mittelteil mit dem Thema im Englischhorn schwillt der Satz mit der Reprise zu eindringlicher Lautstärke und Kraft an.
Auf ein Scherzo verzichtete Chausson. Das dahinjagende Finale Animé besitzt anfangs eine bohrende Intensität, die in der Reprise wiederkehrt. Mit raschen Tempi und einer an Wagners Tristan und Isolde erinnernden, unaufgelösten Chromatik werden die Themen der vorausgegangenen Sätze wieder aufgegriffen. Damit folgt der Satz dem zyklischen Prinzip seines Lehrers César Franck, wenn auch in viel freierer und individuellerer Weise. (Die Übernahme dieses Gestaltungsprinzips hatte Chaussons Symphonie zumindest von einigen Musikkritikern den Vorwurf eingebracht, ein epigonales Werk der Franck-Nachfolge zu sein.) Die Reprise, in der die Themen ein letztes Mal abgewandelt werden, mündet in einen feierlichen, lichten Bläser-Choral. »Bewegt und von interessanter Faktur, aufgeweckt und warm zugleich, mit volkstümlichen Anklängen«, so beschrieb Jean Gallois diesen Satz in seiner Chausson-Biographie von 1994. Dem Werk insgesamt attestierte er eine Botschaft, die »zugleich künstlerisch und menschlich« ist. Und spricht weiter von einem »ins Gesicht der Welt ausgestoßenen Schrei der Seele«, von einem »geistigen Kampf des Lichtes mit der Finsternis, der mit einer Art siegreichen, stärkenden Hymne endet«.