Lebensdaten des Komponisten
3. Februar 1809 in Hamburg – 4. November 1847 in Leipzig
Entstehungszeit
1839/1840
Widmung
Friedrich August II., König von Sachsen
Uraufführung
25. Juni 1840 in der Leipziger Thomaskirche anlässlich der 400-Jahr-Feier der Erfindung des Buchdrucks; zweite, heute gebräuchliche Fassung am 3. Dezember 1840 im Leipziger Gewandhaus unter der Leitung von Felix Mendelssohn Bartholdy
Das Werk beim BRSO
Erstaufführung: 12. Mai 1996 im Herkulessaal unter Michael Gläser
Zuletzt auf dem Programm: 28./29. Juni 2012 in der Philharmonie im Gasteig unter Pablo Heras-Casado
»Sondern ich wöllt alle Künste, sonderlich die Musica, gern sehen im Dienst, des der sie geben und geschaffen hat.« Martin Luther sendete dieses Wort, wie so viele bedeutend wichtigere, in die Welt. Nicht mühsam von Mund zu Mund, sondern in klaren, scharf geschnittenen Lettern auf rauem Papier gedruckt – einmal, viele Male, scheinbar unzählige Male. Der Gutenberg‹sche Buchdruck ließ eine neue Zeit anbrechen, die Epoche der Reformation und später der Aufklärung. Felix Mendelssohn Bartholdy, aus einer reichen jüdischen Philosophen- und Bankiersfamilie stammend und als Siebenjähriger zum protestantischen Glauben konvertiert, fand in dem Luther-Wort ein passendes Geleit für eine Komposition, zu der er 1839 vom Magistrat der Stadt Leipzig einen Auftrag erhielt.
Musik für die Feierlichkeiten zur 400-Jahr-Feier der Erfindung des Buchdrucks sollte er schreiben. Die traditionsreiche Verlagsstadt nahm das Jubiläum zum Anlass, auch sich selbst als prosperierende Metropole und ihre Bürgertugenden zu feiern. Dass sie die Festmusik in die Hände ihres Gewandhauskapellmeisters legte, verwundert nicht. Schließlich brachte Mendelssohn den Leipziger Konzertbesuchern schon seit vier Jahren einen hoch ambitionierten Querschnitt aus Selbstkomponiertem, Aktuellem sowie aus regelmäßigen Neu- und Wiederentdeckungen zu Gehör, darunter auch die legendäre (Ur-)Aufführung der »Großen« C-Dur-Symphonie von Franz Schubert.
Für die Feierlichkeiten schrieb Mendelssohn eine Festhymne für Männerchor und Blasorchester und ein weiteres Werk, bei dem er sich zunächst nicht ganz sicher war, was es eigentlich sein sollte: Lobgesang nannte er es, aber wie es sonst einzuordnen sei, mit seiner ausgedehnten Sinfonia und den folgenden neun Abschnitten mit Soli und Chor? Schließlich verlangte die Zeit so etwas wie eine Gattungszuordnung. Mendelssohns in London weilender Freund Karl Klingemann hatte schließlich die Idee, den Lobgesang als Symphonie-Kantate zu bezeichnen, auch im Hinblick auf einen sinnvoll zu übersetzenden Titel für die englische Erstaufführung in Birmingham, die Mendelssohn selbst im September 1840 leitete: »Du hast übrigens mit Deinem vortrefflich gefundenen Titel viel zu verantworten; denn nicht allein schick ich das Stück nun als Symphoniekantate in die Welt, sondern ich denke auch stark daran, die erste Walpurgisnacht, welche mir seit langem daliegt, unter dieser Benennung wieder aufzunehmen, fertig zu machen und los zu werden.« In diesem Brief an Klingemann wird deutlich, dass Mendelssohn den Lobgesang in der Sphäre der Kantate ansiedelte. Dass das Werk heute dennoch vorrangig als seine Zweite Symphonie gehandelt wird, ist den Herausgebern der ersten Gesamtausgabe der Werke Mendelssohns geschuldet.
Als Symphoniker beschritt Felix Mendelssohn Bartholdy nach seinen zwölf Streichersymphonien für die familieneigenen Hauskonzerte und nach seiner Symphonie Nr. 1 in c-Moll von 1824 eher gewundene Wege. Seine beiden kompositorischen Reisetagebücher, die Italienische und die Schottische Symphonie vom Beginn der 1830er Jahre, unterzog er immer wieder Bearbeitungen. Dabei konnte er sich nicht entschließen, ihre Vollendung durch Drucklegung zu bestätigen – Grund für die nicht der Entstehungsreihenfolge entsprechende Nummerierung der Mendelssohn‹schen Symphonien. Die Reformationssymphonie hielt er selbst für ein schwaches Werk, und der Blick auf die Konkurrenz ließ Mendelssohn aufhorchen: Beethoven schrieb ein Symphonie-Finale mit Chor. Auch Hector Berlioz‹ Symphonie fantastique, die Mendelssohn 1830 in Rom samt ihrem Schöpfer kennenlernte, oder dessen Harold en Italie öffneten seinen Blick für das, was eine Symphonie auch sein konnte: ein Werk, das sich einer Idee, einem Programm oder wie selbstverständlich der vokalen Sphäre öffnete.
Akribisch geplante Architektur
Am 16. Februar 1840 schrieb Mendelssohn an Klingemann, dass er für das anstehende »Buchdruckerfest« eine Musik schreiben würde: »Wahrscheinlich mache ich eine Art kleineres Oratorium oder grösseren Psalm.« Was dann in den wenigen Monaten zwischen Februar und Juni 1840 entstand, kann auch tatsächlich nicht leicht einer Gattung zugeordnet werden, es besteht jedenfalls aus einer einleitenden Sinfonia, die mit ihren drei Sätzen immerhin fast ein Drittel des ganzen Werks einnimmt. Einfließen ließ Mendelssohn dabei Teile einer bereits 1838 skizzierten B-Dur-Symphonie – mit ein Grund, warum das Werk später immer wieder mit kompositorischer Resteverwertung in Verbindung gebracht wurde. Das Gegenteil ist der Fall: Das klingende Resultat ist eine planvolle Ouvertüre, die von der ersten Note an den vokalen Hauptteil klug vorbereitet: zunächst in der langsamen Einleitung durch das mächtige Posaunen-Motiv, das sich als übergeordnetes »Alles was Odem hat«-Motto erweist. Gleich im folgenden Allegro findet es im Hauptthema seinen Niederschlag und wird zudem immer wieder zitiert.
Vokal gedacht ist auch die Überleitung: Ein Klarinettenrezitativ schlägt die Brücke zum folgenden Allegretto, einer leichtfüßig dahingleitenden Musik, aus der immer wieder gestreng ein Bläserchoral heraussticht. Die Melodie des Chorals beruht nicht auf einem traditionsreichen Kirchenlied, sondern ist Mendelssohns Fantasie entsprungen. Aus gutem Grund, schließlich leuchtet auch hier das »Alles was Odem hat« durch die feierlichen Choralklänge. Den Abschluss der Sinfonia bildet ein Adagio religioso – ein Satz, der sich gänzlich auf seine instrumentalen Tugenden besinnt und ein musikalisches Stimmungsbild von zärtlicher Sommernachtstraum-Güte abgibt. Bemerkenswert ist, dass sich hier erneut Mendelssohns akribisch geplante Architektur und die Verzahnung der Einzelteile offenbaren. So erwächst aus der versonnenen Religioso-Stimmung ein pulsierendes, unruhig vorantreibendes Motiv, das auf die Introduktion des Chores Nr. 2 vorausweist und somit den dreiteiligen Chor-Block (»Alles, was Odem hat« / »Lobt den Herrn mit Saitenspiel« / »Lobe den Herrn, meine Seele«) zu einer musikalischen Einheit mit der Sinfonia verschmilzt. Der Übergang instrumental-vokal ist für den Gesamtaufbau des Werks kaum mehr als eine Äußerlichkeit.
Von der Nacht zum Licht
Für den Vokalteil seines musikalischen Gutenberg-Gedenkens wählte Mendelssohn eine Reihe von Psalmen- und Epistel-Ausschnitten aus der Bibel. Von der Nacht zum Licht lautet der übergeordnete Gedanke, den er in den folgenden Vokalsätzen variiert und zu kleinen Binnenteilen zusammenfügt. Zunächst in einer Abfolge von Rezitativ, Tenor-Arie und Chor (Nr. 2–4), in der Gott als der dargestellt wird, der »die Tränen in der Zeit der Not« zählt und sich nicht vom Menschen abwendet. Den dramatischen Verlauf der folgenden Nummern 5–7 fand Mendelssohn indes erst bei der zweiten, heute gebräuchlichen Version des Lobgesangs, die er für die Aufführungen im Herbst 1840 hier erweiterte. Sie spannt den Bogen von totaler Hoffnungslosigkeit (»Wir wandelten in Finsternis«) bis zum kämpferisch strahlenden D-Dur-Chor (»… und ergreifen die Waffen des Lichts«). Die Entwicklung dorthin vertraut er einer kleinen szenischen Episode an, die mit ihrem mehrfachen Frage-Antwort-Spiel (»Hüter, ist die Nacht bald hin?«) an eine ähnliche Szenerie aus dem Elias denken lässt.
Um nach diesem vorläufigen Höhepunkt des Licht-Chores (Nr. 7) den Spannungsbogen aufrecht zu halten, wählt Mendelssohn einen schlichten Choral, der den Dank der Gemeinde ausdrückt (»Nun danket alle Gott«) und nach einer ersten A-cappella-Strophe mit der ungewöhnlichen Kombination von Pauke, Holzbläsern, Orgel und Streichern eine Klangsprache von feierlicher Zurückhaltung ausbreitet. Als zweiter Choral des Werks schlägt er die Brücke zurück zur Sinfonia. Zudem erklang das Gemeindelied auch am Tag vor der Lobgesang-Uraufführung bei der Enthüllung des Gutenberg-Denkmals. Der Choraltext selbst geht auf Luther zurück und wurde 1630 zur Hundertjahrfeier der Augsburger Konfession, also einem zentralen protestantischen Ereignis aus der Reformationszeit, zum Kirchenlied umgedichtet.
»Alles was Odem hat, lobe den Herrn«
Bei der Dramaturgie des Schlussteils verlässt sich Mendelssohn erneut auf die traditionelle Abfolge Arie/Duett-Chorsatz-Chorfuge. Im Duett für Sopran und Tenor (Nr. 9) hat die Nacht-Licht-Spannung längst nicht mehr die verzweifelte Schärfe wie in der Szene vor dem Choral. Streicher, Fagott und Flöten verströmen pastorale Heiterkeit, und der Gesang ist voller Zuversicht, dass auf die Rettung durch den Herrn Verlass ist. Ehre, Macht, Herrlichkeit und der Dank an Gott setzt Mendelssohn in einem prächtigen Chor-Block mit Schlussfuge in Szene, und nun erklingt als jubelnder Endpunkt ein letztes Mal das »Alles, was Odem hat, lobe den Herrn«-Motto, mit dem das Werk auch begann.
Mendelssohns Lobgesang ist ein Opfer der Schubladendenker geworden. Sogar Freund Robert Schumann, der ja auch immer nach neuen Wegen suchte, ließ sich von Gattungsgrenzen irritieren und empfahl die Trennung der Sinfonia vom Chorteil »zum Vorteil beider«. Weggenosse Adolf Bernhard Marx sprach in Mendelssohns Todesjahr von einer »verunglückten Imitation von Beethovens Neunter Symphonie«. Auch Wagner stichelte verächtlich, warum solle »Der oder Jener nicht auch eine Symphonie mit Chören schreiben können«? Der Lobgesang möchte indes ganz Anderes als Beethovens Neunte, in der der Gegensatz zwischen Chorfinale und Vorhergegangenem klar formuliert ist (»O Freunde, nicht diese Töne!«). Mendelssohn suchte nicht das Trennende sondern die Vereinigung von Wort und Musik, er erweiterte nicht das Instrumentale ins Vokale, sondern er ließ umgekehrt neben dem Chor das Orchester gleichberechtigt an der zentralen Aussage des Werks teilhaben: »Alles, was Odem hat, lobe den Herrn«.