Lebensdaten des Komponisten
7. Mai 1833 in Hamburg ‒ 3. April 1897 in Wien
Entstehungszeit
Sommer 1884 (1. und 2. Satz) und 1885 (3. und 4. Satz) in Mürzzuschlag, Steiermark
Uraufführung
25. Oktober 1885 in Meiningen durch die Herzogliche Hofkapelle unter der Leitung des Komponisten
Das Werk beim BRSO
Erstaufführung: 20./21. Oktober 1949 in der Aula der Universität unter Eugen Jochum
Weitere Aufführungen u. a. unter Otto Klemperer, William Steinberg, Karl Böhm, Michael Gielen, Rafael Kubelík, Sir Colin Davis, Iván Fischer, Lorin Maazel, Fabio Luisi, Mariss Jansons, Andris Nelsons und Daniel Harding
Zuletzt auf dem Programm: 10./11. Oktober 2019 im Münchner Herkulessaal sowie auf der anschließenden Herbsttournee unter Mariss Jansons. Die Vierte Symphonie stand auch auf dem Programm von Mariss Jansons’ letztem Konzert am 8. November 2019 in der New Yorker Carnegie Hall.
Johannes Brahms repräsentierte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Gegenpartei zu den sogenannten »Neudeutschen«, wie man die Komponisten um Franz Liszt und Richard Wagner nannte. Sie waren die Fortschrittlichen, Brahms dagegen galt als konservativ, wenn nicht als rückschrittlich. Völlig falsch war diese Einschätzung nicht, wie auch seine Vierte Symphonie zeigt. Allein schon die Tatsache, dass Brahms an der Gattung der Symphonie festhielt, deren Ende Wagner bereits um 1850 verkündet hatte, erweist ihn als Traditionalisten. Brahms komponierte absolute Musik und scherte sich nicht um Programmatik, wie sie die »Neudeutschen« – man denke an Liszts Symphonische Dichtungen – als das Nonplusultra moderner Musik ausgaben. Demgemäß hat seine Vierte Symphonie die klassischen vier Sätze: Allegro, Andante, Scherzo, Allegro, und auch in ihrer Ausdehnung – die Symphonie dauert 35 bis 40 Minuten – überschreiten diese vier Sätze die traditionell üblichen Maße nicht.
Brahms lehnte den »sogen. freien künstlerischen Vortrag« der »Neudeutschen« ab, plädierte stattdessen für die Einheit des Tempos, in der er – wie die Wiener Klassiker – die Garantie für die Einheit des Symphoniesatzes sah. Selbst die zugrunde liegenden Formmodelle sind altbewährte Muster, wie man sie aus der Wiener Klassik kennt, auch wenn Brahms sie modifiziert. Mit der Form der Chaconne oder Passacaglia im vierten Satz wandte er sich noch weiter zurück, nämlich ins 17. und 18. Jahrhundert. Ihr Thema stammt nicht zufällig von Johann Sebastian Bach. Doch zugleich bezog er sich auf Beethoven. Als ihm entgegengehalten wurde, die Form des letzten Satzes sei »kein rechter Abschluß für die Symphonie«, erwiderte er, »das Finale der ›Eroica‹ sei zwar keine Chaconne, aber doch ein ziemlich strenger Variationensatz, der das festliegende Bassthema gehörig respektiere«.
Augenmusik
Bezug zur älteren Musikgeschichte findet sich auch an anderen Stellen und in anderen Zusammenhängen. Im ersten Thema des zweiten Satzes verwendet Brahms die alte Kirchentonart Phrygisch (ein e-Moll mit ›f‹ statt ›fis‹ als zweiter Stufe), und in den Variationen 15 und 16 des vierten Satzes greift er den in der Barockzeit so beliebten Sarabanden-Rhythmus auf. Nicht zuletzt aber die satztechnische Kunstfertigkeit, die gleichsam Takt für Takt den Bezug zu den Traditionen des Komponierens verrät, weist Brahms als Meister seines Fachs aus. Diese Meisterschaft war wohl gemeint, als die Universität Breslau 1879 Brahms den Ehrendoktortitel verlieh und dies mit der allerdings problematischen Begründung tat, er sei »artis severioris in Germania nunc princeps« (»derzeit der Führende der ernsteren Kunst in Deutschland«) – was den »Neudeutschen« verständlicherweise nicht gefiel. Wahrscheinlich aber sollte »severus« als »streng« verstanden werden, als Hinweis nämlich auf den »strengen Stil«, wie man die polyphone und kontrapunktische Satzkunst traditionellerweise nannte. Damit war der Ehrendoktor geradezu eine Verpflichtung zur traditionell-handwerklichen Gediegenheit des Komponierens. Und dieser kam Brahms nach, wie ganz besonders seine Vierte Symphonie von 1884/1885 zeigt.
Gerade durch ihre Verwurzelung in der Tradition ist diese Symphonie ein äußerst komplexes Werk. Das fiel schon Brahms’ Zeitgenossen auf. Die mit Brahms befreundete Pianistin Elisabet [sic!] von Herzogenberg beispielsweise schrieb im September 1885, nachdem sie den ersten Satz (Allegro non troppo) kennengelernt hatte: »Es ist mir, als wenn eben diese Schöpfung zu sehr auf das Auge des Mikroskopikers berechnet wäre, als wenn nicht für jeden einfachen Liebhaber die Schönheiten alle offen da lägen, und als wäre es eine kleine Welt für die Klugen und Wissenden, an der das Volk, das im Dunkeln wandelt, nur einen schwachen Anteil haben könnte. Ich habe eine Menge Stellen erst mit den Augen entdeckt und mir gestehen müssen, daß ich sie nur mit den Ohren meines Verstandes, nicht mit den sinnlichen und gemütlichen aufgefaßt hätte, wenn mir die Augen nicht zu Hilfe gekommen wären.«
Was Elisabet von Herzogenberg beschrieb, nennt man gemeinhin »Augenmusik«. Der Begriff weist auf eine Konsequenz hin, die das Komponieren auf dem Papier, das Übersetzen der Musik in die Notenschrift fast zwangsläufig mit sich bringt. Komponieren ist nicht nur eine Sache der Ohren, sondern auch der Augen, was heißt, dass der Komponist Techniken anwenden kann, deren Resultate zwar in der Partitur zu erkennen, in der Aufführung aber nur schwer oder gar nicht zu hören sind, wie etwa Themenumkehrungen. Das Phänomen ist so alt wie das Aufzeichnen von Kompositionen selbst. Brahms steht auch damit in einer langen Tradition.
Aber auch jenseits dessen, was der Partiturleser entdeckt, dem Hörer aber eher entgeht, ist die Musik von Brahms’ Vierter Symphonie voller satztechnischer Finessen und Raffinessen, seien es die motivischen Beziehungen, seien es die kanonischen Verknüpfungen. Brahms mutet dem Hörer allerhand zu. Sehr drastisch kommt das in einer Äußerung zum Ausdruck, die dem berühmten Wiener Kritiker und Brahms-Apologeten Eduard Hanslick zugeschrieben wird; er soll nämlich nach dem ersten Anhören des ersten Satzes (gespielt auf zwei Klavieren) gesagt haben: »Den ganzen Satz über hatte ich die Empfindung, als ob ich von zwei schrecklich geistreichen Leuten durchgeprügelt würde.«
Spiel mit den Hörerwartungen
Es handelt sich – und darin mag für die Zeitgenossen das Problem bestanden haben – nicht nur um eine von der Tradition getragene Komplexität des Komponierens, sondern ebenso sehr um deren Verbindung zur aktuellen Musik der Zeit. Brahms war bei aller Tradition, an der er festhielt, kein Klassizist. Das zeigen etwa die Harmonik und die Rhythmik, die denen der »Neudeutschen« nicht nachstehen, nur dass Brahms das Avancierte eher versteckt als herausstellt und stets seine eigenen Wege geht. Brahms weckt die Erwartungen seiner Zuhörer, um dann mit ihnen zu spielen. Im ersten Satz scheint es so, als beginne nach Abschluss der Exposition deren Wiederholung, doch der Schein trügt. In Wahrheit beginnt die Durchführung, was der Hörer jedoch erst später merkt. Ähnlich verwirrend erscheint die Reprise. Sie tritt derart abgewandelt auf, dass sie wie ein Teil der Durchführung wirkt. Wieder wird der Hörer überrascht, der abermals erst im weiteren Fortgang der Musik begreift, dass er sich bereits im neuen Formteil befindet. Die pompöse Apotheose des Hauptthemas am Schluss des Satzes wirkt daher wie die eigentliche Reprise.
Der zweite Satz (Andante moderato) ist, grob betrachtet, vierteilig: Auf einen ersten Themakomplex in der Grundtonart folgt ein zweiter in der Dominante, danach werden beide Abschnitte wiederholt, wobei der zweite in der Grundtonart auftritt. Doch so klar und eindeutig ist die Lage in Wirklichkeit nicht. Das erste Thema wird bereits vor dem zweiten wiederholt, und an seine Wiederkehr nach dem zweiten Thema schließt sich etwas an, das nichts Anderes ist als eine Durchführung, wie überhaupt die permanente motivische Arbeit die Grenzen der vorgegebenen Form gleichsam permanent unterwandert.
Im dritten Satz (Allegro giocoso), dem die Sonatensatzform zugrunde liegt, erklingt das Hauptthema in der Reprise nicht im Zusammenhang, sondern irritierenderweise aufgeteilt in seine Bestandteile. Es schiebt sich jeweils Anderes dazwischen, vor allem ein Abschnitt in langsamerem Tempo, der wie das Trio in einem herkömmlichen Scherzo wirkt.
Das Spiel geht auch im vierten Satz (Allegro energico e passionato) weiter. Obwohl durch die altertümliche Form der Chaconne oder Passacaglia von der Sonatensatzform denkbar weit entfernt, gibt es doch eine Wiederkehr der Anfangsgestalt des Themas, die wie eine Reprise wirkt. Andererseits geht dieser Reprise ein Abschnitt voraus, der nach Taktart und Charakter wie der lyrische Mittelteil einer Bogenform wirkt. Das Thema des Satzes übernahm Brahms aus der Bach Kantate Nach dir, Herr, verlanget mich, BWV 150, allerdings nicht, ohne es merklich zu verändern. Er dehnte es auf acht Takte aus und schob vor allem einen Takt mit einer chromatischen Erhöhung ein, wodurch es unüberhörbar in Brahms’ eigene Zeit übersetzt erscheint. Und dass gerade diese »Modernisierung« Brahms besonders wichtig war, zeigt die Coda des Satzes. Der chromatische Anstieg vom ›h‹ bis zum ›f‹ ist gleichsam die Apotheose des in das Thema eingeschobenen Halbtonschritts.
Mit Chaconne oder Passacaglia bezeichnet man eine Variationenform, in der permanent an einem Thema, meist ausschließlich im Bass, festgehalten wird, zugleich aber alle übrigen Stimmen sich frei entfalten können. Im vierten Satz von Brahms’ Vierter Symphonie folgen dem Thema nicht weniger als 30 Wiederholungen, und doch entsteht nicht der Eindruck der fortwährenden Repetition des Immergleichen. Vom Ostinato ist man weit entfernt, weil Brahms das Thema, das er einerseits zwar mit großer Eindringlichkeit präsentiert, andererseits aber immer wieder zugunsten der übrigen Stimmen ins Unauffällige zurücknimmt. Er versteckt es geradezu in Tonsatz und Harmonie. Man könnte meinen, er wolle die zugrunde liegende Form der Chaconne oder Passacaglia verschleiern. Dem steht jedoch entgegen, dass er streng dem Prinzip der festumrissenen Variation folgt. Der Satz ist eine Variationenfolge, in der sich Charakter an Charakter reiht, und dies gestaltet von einer schier unerschöpflichen Phantasie. Brahms’ Biograph Max Kalbeck sprach deshalb von der »Krone aller Brahmsschen Variationensätze«.
Das Gegengewicht zur Fülle der unterschiedlichen und kontrastierenden Charaktere ist Brahms’ subtile Fähigkeit, die Grenzen zu überspielen und zwischen den Variationen zu vermitteln, ein Vermögen, das Richard Wagners berühmter »Kunst des Ueberganges« nicht nachsteht. Elisabet von Herzogenberg nannte das im September 1885 den »durchgehenden Zug, der aus der Vielheit eine Einheit macht«, womit sie sich auf den ersten Satz bezog. Nun könnte man meinen, Brahms’ Vierte Symphonie sei für den Hörer nichts anderes als eine harte Nuss, vergleichbar mit Kompositionen wie der Kunst der Fuge oder dem Musikalischen Opfer von Bach. Dem hat Brahms vorgebeugt. Auch in der Vierten Symphonie gilt, was seine gesamte Musik auszeichnet: Sie ist von einer Wärme und spontan wirkenden Lebendigkeit, dass auch derjenige seine Freude daran hat, dem die kompositorische Kunst verborgen bleibt. Hans von Bülow, der als erster nach Brahms die Symphonie dirigierte, sagte von ihr: »Athmet beispiellose Energie von a bis z.« Und Clara Schumann meinte: »trotz der vielen großen Arbeit so voll tiefer Leidenschaft«.