Lebensdaten des Komponisten
7. Mai 1833 in Hamburg ‒ 3. April 1897 in Wien
Entstehungszeit
1877 in Pörtschach am Wörthersee und Wien
Uraufführung
30. Dezember 1877 in Wien mit den Wiener Philharmonikern unter der Leitung von Hans Richter
Das Werk beim BRSO
Erstaufführung: 16. Juli 1951 im Kongresssaal des Deutschen Museums unter Leopold Stokowski
Weitere Aufführungen unter Eugen Jochum, Jan Koetsier, Joseph Keilberth, Sir John Barbirolli, Rafael Kubelík, Bernard Haitink, Colin Davis, Lorin Maazel, Wolfgang Sawallisch, Thomas Dausgaard und Mariss Jansons
Zuletzt auf dem Programm: 11. Februar 2012 in der Philharmonie im Gasteig sowie im Mai 2014 auf Tournee in Buenos Aires, São Paulo und New York, jeweils unter Mariss Jansons
Johannes Brahms und die Symphonie – das ist ein eigenes und eigenartiges Kapitel in der Werkgeschichte des Komponisten, voller Schwierigkeiten, Siege, Niederlagen und letztlich voller großer Triumphe. Seine Erste Symphonie hatte gleich nach ihrer Uraufführung, ja bereits schon während der Entstehung, ihre Legende. Es ist immer und immer wieder beschrieben worden, welche Schwierigkeiten und Skrupel Brahms hatte, welche Umwege er ging – stets hörte er »den Riesen Beethoven hinter sich marschieren« –, um zu seinem symphonischen Erstling zu gelangen. Der Komponist war immerhin schon 43 Jahre alt, und Hans von Bülow hatte ihm bescheinigt, die »Zehnte Symphonie Beethovens« geschrieben zu haben.
Mit dieser plastischen Aura faustischen Ringens hat die Zweite, rund ein Jahr danach am 30. Dezember 1877 von Hans Richter und den Wiener Philharmonikern uraufgeführt, nie aufwarten können. Sie ist von Anfang an selbstverständlicher aufgenommen worden, als habe man zur Kenntnis genommen, dass Brahms hier zur endgültig souveränen Verfügung über die symphonische Komposition gekommen sei: Es wäre wohl niemandem mehr eingefallen, von »Beethovens Elfter« zu sprechen, wohl aber von Brahms’ »Pastoraler« (Walter Niemann). Ähnlich Beethovens Sechster zwischen der Fünften und Siebten galt Brahms’ Zweite innerhalb seines symphonischen Gesamtwerks lange Zeit als eher idyllisch, lyrisch-heiter, »anakreontisch«. Zwar hatte Brahms an Joseph Joachim, seinen Vertrauten in kompositorischen Dingen, geschrieben: »Ich bin Dir von Herzen verbunden, und zum Dank soll’s auch, wenn ich Dir etwa den Winter eine Symphonie vorspielen lasse, so heiter und lieblich klingen, daß du glaubst, ich habe sie extra für Dich oder gar Deine junge Frau geschrieben! Das ist kein Kunststück, wirst Du sagen, Brahms ist pfiffig, der Wörther See ist ein jungfräulicher Boden, da fliegen die Melodien, daß man [sich] hüten muß, keine zu treten.«
Zugleich aber mystifizierte er gegenüber Freunden (außer Joachim), Bekannten und dem Verleger den Charakter des zu erwartenden Werkes schon während der Komposition. Mit dem ihm eigenen befremdlichen Humor teilte er wiederholt in Briefen mit, die neue Symphonie sei »so melancholisch, daß Sie es nicht aushalten«, er habe »noch nie so etwas Trauriges, Molliges« geschrieben, und überhaupt, die Partitur müsse »mit Trauerrand« erscheinen. Die Ironie ist sicher nicht im Sinne einer »Umkehrung ins Gegenteil« zu verstehen, sondern eher als Schutz und Abwehr in der Besorgnis, man könnte unter der weniger kantigen Oberfläche den großen Ernst des Werkes nicht erkennen. In der Tat wäre diese Besorgnis nicht unbegründet gewesen, denn die Symphonie fand zwar schnelle Verbreitung, vor allem aber musste sehr häufig der dritte Satz wiederholt werden, also eben jener, der dem idyllisch heiteren Klischee am ehesten entspricht.
»Romantisch entgrenzt«
Brahms’ Zweite Symphonie knüpft nicht mehr unmittelbar bei Beethoven an, allenfalls ließe sich sagen, sie empfinge »Beethovens Geist aus Schuberts Händen«, besonders aus dessen Großer C-Dur-Symphonie, an deren Ton vor allem der dritte Satz gemahnt. Schubertisch ist auch die größere Gelassenheit, mit der sich – gegenüber der Ersten – das thematisch-motivische Material des ersten Satzes etwa entfaltet. Doch sollte diese Gelassenheit nicht mit Spannungslosigkeit verwechselt werden. Die dissonanten Ballungen in der Durchführung und die für Brahms typische Neigung zum widerborstigen Zwei-gegen-Drei-Rhythmus sprechen dagegen. Das vom Bläserklang bestimmte romantisierende Kopfthema und das joviale Seitenthema sind längst keine Kontraste mehr im Sinne der alten Sonatenform. Motivisch-thematische Arbeit dagegen beginnt gleich in der Exposition, kontrapunktisch wie so oft bei Brahms: Schon von daher ist von »Idylle« nichts zu verspüren. Eine über zwei Oktaven springende dritte thematische Gestalt in scharf punktiertem Rhythmus und das drängende, über den Taktstrich Hinweg-Musizieren sorgen für die dramatischen Akzente.
Sollte vom »romantischen Brahms« die Rede sein, dann vor allem an jener Stelle, von der der Verfasser gesteht, sie nie ohne Anrührung hören zu können: Bevor der Kopfsatz in seine Coda mündet, gibt es eine Hornpassage, die als der Inbegriff des Abschieds, des Eingedenkens im romantischen Sinne par excellence erscheint. Aus dem Beginn der Coda löst sich die Stimme des ersten Horns zu einer Art Abschiedsgesang. Hier ist alles »romantisch entgrenzt«, der Rhythmus, die Melodie, die Harmonik und allem voran der Klang: das Horn als romantisches Symbol der »entgrenzten Landschaft«, der Reisesehnsucht und des Fernwehs (Posthorn), musikalisches Symbol des Waldes (Webers Freischütz), der runde, satte Klang, den bereits die Mannheimer Schule schätzte, als sie das Horn dem Orchester zuführte. Auch der Rhythmus der zitierten Stelle ist »romantisch entgrenzt«, indem der 3/4-Takt permanent unterwandert wird, so dass sich kaum je eine betonte Zählzeit auf ihrem Platz befindet. Soll diese Stelle insgesamt bewertet werden, so ist sie von ebenso kalkulierter Romantik wie konstruierter Unschärfe. Romantische Requisiten wie der Hörnerklang, die rhythmische Verschiebung und die Chromatik sind hier im Dienste der Formrealität der Symphonie eingesetzt. Nicht die Symphonie ist romantisch, sondern ihre Formstrategie ist so angelegt, dass solche Teile, die zu ihrer Verdeutlichung romantische Requisiten benötigen, diese auch bekommen. So zum Beispiel die Coda des ersten Satzes. »Coda« als Formteil bedeutet zugleich auch Abschied. Und wie Beethoven ein Meister dieses Coda-Abschieds war, folgt ihm sein gelehriger Schüler Brahms nach. Im Gegensatz zu Beethoven jedoch greift Brahms hier zu romantischen Mitteln: Das Horn singt dem durchaus lyrischen Symphoniesatz seinen Abschied, das musikalisch-formale Element geht unmerklich in einem inhaltlich-psychologischen auf, eine künstliche Romantik.
Klassizistischer Zuschnitt
Auf den sonst eher klassizistischen Charakter der Symphonie weist bereits die Orchesterbesetzung hin, die sich im anbrechenden Zeitalter der Mammut-Orchesterpalette eines Bruckner, Mahler oder Strauss betont bescheiden in den Maßen der Mendelssohn-Schumann-Ära hält: 2 Flöten, 2 Oboen, 2 Klarinetten, 2 Fagotte, 4 Hörner, 2 Trompeten, 3 Posaunen, Tuba, Pauken, Streicher.
Klassizistisch im Sinne der von Schubert über Schumann an Brahms weitergereichten Wiener Klassik ist auch die Viersätzigkeit der symphonischen Gesamtanlage, klassizistisch auch die Lösung des »Problems des letzten Satzes« als wiederaufgenommene modifizierte Sonatensatzform, klassizistisch schließlich Folge und Charaktere der beiden Innensätze als langsam und tänzerisch. Bemerkenswert dabei ist die Tonartenfolge der Sätze D-Dur – H-Dur – G-Dur – D-Dur: das nach unten absteigende Prinzip »mediantischer Terzverwandtschaft«. Auch der im eher tragischen Ton gehaltene zweite Satz suspendiert die motivisch-thematische Arbeit nicht, sein Mittelteil hat Durchführungscharakter. Der beliebte dritte Satz wirkt durch vertrackte Tempo- und Taktwechsel der allzu bequemen Auffassung von bukolischer Ländler-Seligkeit entschieden entgegen.
Hatten seit Schumanns Rheinischer Symphonie rund zwei Jahrzehnte vergehen müssen, ehe Brahms mit seiner Ersten eine neue Phase symphonischer Komposition in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einleitete, so können wir in Brahms’ Zweiter Symphonie eine souveräne Konsolidierung dieser musikgeschichtlichen Etappe sehen. Wir möchten – auf Widerspruch gefasst – hinzufügen: Diese Symphonie stellt die Bewältigung, den Abschied und die Überwindung der musikalischen Romantik dar.