Um was für ein Instrument handelt es sich genau?
Norbert Neubauer: Diese Frage ist nicht ganz leicht zu beantworten, da es keine Originalhinterlassenschaften dazu gibt, sondern nur Hinweise in drei Partituren von Kantaten Johann Sebastian Bachs. Der erste Teil der Instrumentenbezeichnung »Corno« verweist auf ein Horninstrument in Tenorlage mit einem weiten Schallbecher. Andererseits lässt die hohe Lage der Corno-da-tirarsi-Partien bei Bach vermuten, dass es sich um ein viel kürzeres Instrument wie das Corno da caccia handelte, das ähnlich wie die Naturtrompete im hohen Register spielt. Und dann haben wir noch den Zusatz »da tirarsi«, zum ziehen – ein Corno, bei dem durch eine Hin- und Herbewegung wie bei einer Posaune eine Verlängerung oder Verkürzung des Instruments erzeugt wird. Das Corno da tirarsi stellt also einen Tonvorrat bzw. Zwischentöne zur Verfügung, die beispielsweise bei einer Naturtrompete nicht da sind.
Also eine Art Mischform zwischen Horn, Trompete und Posaune. Wann und wo in der Musikgeschichte erscheint dieses Instrument?
Thomas Kiechle: Das Corno da tirarsi ist eng verbunden mit Bach und dem berühmten Leipziger Stadtpfeifer Gottfried Reiche, der ein herausragender Trompeter, ein richtiger Star war. Für ihn hat Bach unfassbar virtuose Trompetenpartien und wahrscheinlich auch die Corno-da-tirarsi-Partien geschrieben, denn diese finden sich nur zu der Zeit, als er mit Reiche zusammengearbeitet hat. Norbert Neubauer: Möglicherweise wurde überhaupt nur ein einziges solches Instrument gebaut, eventuell eben für Reiche. Ob in Nürnberg, dem damals wichtigsten Zentrum des Trompetenbaus, oder vor Ort in Leipzig, ist nur eine weitere Spekulation. Einzig klar ist, dass das, was Bach damals schrieb, etwas ganz Neues war, sozusagen die Popmusik des Barockzeitalters mit neuen Ansprüchen an die Musiker und auch an die Instrumente. Deswegen hat sicherlich zwischen Musiker, Instrumentenbauer und Komponist eine enge Zusammenarbeit stattgefunden, um diese neuen Klangvorstellungen realisieren zu können.
Das Trompetenspiel in der hohen Lage, das so genannte Clarinblasen, war zu Bachs Zeiten eine bewunderte Kunst. Welche Vorteile hatte im Vergleich dazu das Corno da tirarsi?
Thomas Kiechle: Der größte Vorteil ist, dass ich Töne außerhalb der Naturtonreihe spielen kann, was auf einem Naturtoninstrument, wie man es zu Bachs Zeiten verwendete, nicht oder nur durch größte Verrenkung möglich ist. Um auf einem Naturtoninstrument diese Zwischentöne zu erzeugen, also Töne zu »treiben«, wie man das nennt, muss man ganz besonders mit dem Ansatz [das Anspannen und Formen der Lippen am Mundstück des Blasinstruments, Anm. d. Red.] arbeiten, das kostet viel Kraft und Übung. Mit dem Corno da tirarsi ist es hingegen möglich, Zwischentöne – auch in der tieferen Lage – und ebenso die vielen virtuosen, chromatischen Rückungen, die Bach schreibt, wirklich sauber zu spielen, und sie haben dann auch einen vollwertigen Ton und einen echten Klang. Wobei man da nicht von dem Hornklang ausgehen darf, wie wir ihn von einem großen Waldhorn im Orchester im Ohr haben. Das Corno da tirarsi klingt rustikaler und durchdringender.
Bach fordert das Instrument ausdrücklich in seinen drei Kantaten BWV 46, 67 und 162. Aber auch in vielen weiteren wie etwa den Kantaten BWV 8, 99 und 105 sind die »Corno«-Stimmen so komponiert, dass sie nur auf einem Zuginstrument wie dem Corno da tirarsi spielbar sind. Wie sinddiese Partien musikalisch gestaltet?
Thomas Kiechle: Bach erzielt durch das Corno da tirarsi ganz besondere Klangfarben und Aussagen. Und er verwendet es vollkommen anders als die Trompete. Die Trompete steht bei Bach eigentlich immer für das Herrschaftliche und Göttliche. Man denke etwa an die berühmte Arie aus dem Weihnachtsoratorium »Großer Herr und starker König« für Bass und Solotrompete. In der Kantate BWV 105 gibt es eine Tenor-Arie, die hier von einem Corno da tirarsi solistisch begleitet wird. Technisch ließe sich diese Partie mit größerer Anstrengung auch auf einer Naturtrompete spielen. Aber der Klang der Trompete und die erwähnte typische Symbolik von Macht und Herrlichkeit würden gar nicht zum Text dieser Arie passen, in dem es heißt: »Kann ich nur Jesum mir zum Freunde machen, / so gilt der Mammon nichts bei mir.« Also greift Bach auf den ganz anderen Klang des Corno da tirarsi zurück. Die Partie in der Kantate BWV 105 stellt übrigens extreme Anforderungen an den Spieler, da hat Sir Simon zielsicher das High-End-Stück der Corno-da-tirarsi-Literatur herausgezogen (lacht).
Das Corno da tirarsi funktioniert ganz anders als eine moderne Ventiltrompete. Ist es Ihnen schwer gefallen, sich auf dieses neue Instrument umzustellen?
Thomas Kiechle: Ein paar Grundparameter wie Luftführung und Ansatz sind natürlich gleich. Die größte Umstellung war der Umgang mit dem Zug, also, die Positionen zuverlässig zu finden und so zu erlernen, dass das wirklich intuitiv und ohne Hinschauen funktioniert. Grundsätzlich finde ich den Wechsel von Barockinstrumenten und modernen Instrumenten im Übealltag wahnsinnig gesund. Denn er reißt mich immer wieder aus der Routine heraus. Die Barocktrompete etwa verlangt an bestimmten Punkten, viel aufmerksamer und klarer zu sein, manchmal fokussierter, manchmal körperlich entspannter. Und das kommt dann auch meinem Spiel auf der modernen Trompete zugute.
Herr Neubauer, wie kamen Sie dazu, das Corno da tirarsi nachzubauen und woran haben Sie sich bei Ihrem Rekonstruktionsversuch orientiert, nachdem es weder erhaltene Instrumente noch Bilder oder Beschreibungen des Instruments gibt?
Norbert Neubauer: Mein erstes Corno da tirarsi habe ich auf Bitten des Trompeters Moritz Görg gebaut. Dabei habe ich versucht, vor dem Hintergrund dessen, was zu Bachs Zeiten bekannt und möglich war, eine historisch plausible und möglichst praktische Lösung zu finden. Der Posaunenzug etwa war damals schon lange bekannt, den konnte ich also verwenden. Ich bin außerdem davon ausgegangen, dass es ein Corno da caccia ist, damit waren die Gesamtlänge und der Grundton c definiert. Dann war eine weitere Überlegung, dass man kein reines Tirarsi- Instrument macht, da es relativ wenig gebraucht wird, und es sinnvoller wäre, wenn man das Instrument auch zu anderen Zwecken einsetzen oder einfach umstimmen kann. Deswegen ist das Instrument als Inventionshorn angelegt, sodass man entweder den Zug einsetzen oder alternativ auch andere Bögen verwenden kann, um das Instrument umzustimmen.
Wie kam das Instrument zum BRSO?
Thomas Kiechle: Es war die, wie ich finde, wirklich tolle Idee von unserem sehr geschätzten neuen Chefdirigenten Simon Rattle, aus dem Orchester heraus ein Ensemble zu gründen, das möglichst alle Mitglieder einschließen sollte und bei dem das Spielen von Barockmusik auf Instrumenten der Epoche oder historisch getreuen Nachbauten im Mittelpunkt steht. Das macht man natürlich nicht von heute auf morgen, darum haben wir Workshops mit Spezialisten organisiert, um die besondere historische Spieltechnik zu erlernen, und passende Instrumente beschafft.
Und hierzu zählte dann auch das Corno da tirarsi?
Thomas Kiechle: Ja, genau. Sir Simon wollte beim ersten Konzert dieser neuen Reihe »hip« ein Programm aus Bach-Kantaten zusammenstellen. Und manchmal sind die Trompetenpassagen in diesen Stücken wirklich heikel, darum hab ich ihn gefragt: »Sind denn da eigentlich Trompeten dabei?« Darauf er: »Nein, Trompeten nicht. Aber hier, ich weiß gar nicht genau, was das ist, ›it’s a funny instrument, called corno da tirarsi‹.« Da habe ich dann erstmal Norbert Neubauer in Nürnberg angerufen, bei dem ich in der Vergangenheit alle meine Barocktrompeten gekauft habe. Ein Instrumentenbauer ist für einen Musiker ja so etwas wie ein sehr guter Hausarzt, zu dem man einfach Vertrauen hat, der sofort sieht, was einem fehlt. Und wenn es um Barocktrompeten geht, ist das für mich Norbert Neubauer, der ja schon Erfahrungen mit diesem Instrument gemacht hatte und dann für uns sein zweites Corno da tirarsi gebaut hat.