Lebensdaten des Komponisten
22. November 1936 in Wiesbaden – 23. Oktober 2019 in Meersburg
Entstehungszeit
1993
Widmung
Peter Oswald
Uraufführung
21. September 1993 in Frankfurt am Main
Gänsehauteffekt und ständige Seelenspannung: Was Franz Schubert seinen Freunden im Frühling 1827 bei einem Hauskonzert serviert, ist nichts für schwache Nerven: Lieder einer »tödlich verletzten Seele«, auskomponierter Schmerz, in Töne gefasste Todessehnsucht. Schon in der Einladung stellt Franz Schubert klar, was zu erwarten ist: »Ich werde euch einen Zyklus schauerlicher Lieder vorsingen.« Ist das der »Schwammerl« – so rufen die Freunde »ihren« Franz –, den sie kennen? Der gerne lustige Lieder und Tänze für die gemeinsamen Landausflüge komponiert, die auch mal feucht-fröhlich in der Wiener Vorstadt enden? Gut, manchmal schreibt er auch Düsteres, aber so schwarz wie diese Musik – das ist dann doch eine Überraschung. Franz Schubert singt mitten im Frühling, als draußen die Blüten sprießen und die Vöglein zwitschern, die düster verschatteten Lieder seiner Winterreise im engen Kreis seiner Freunde und Bekannten. Er scheint berührt und ergriffen von seiner eigenen Schöpfung, denn er trägt die Lieder »mit bewegter Stimme« vor, berichtet der Wiener Hofrat Joseph von Spaun.
In jedem der zwölf Lieder (die nächsten zwölf schreibt er erst im Herbst) besingt Franz Schubert das seelische Frösteln eines Gestrandeten. Die Freunde sind irritiert. Klar, sie wissen, dass ihr Franz auch ein Gestrandeter ist. Einer, der Tag und Nacht wie besessen komponiert, aber nur selten einen Verlag findet, der seine Werke druckt. Der seine auf Papier geschriebenen Musik-Manuskripte gern mal im Gasthaus liegen lässt. Und der seit vier Jahren an der todbringenden Krankheit Syphilis leidet. Aber geht es ihm wirklich so schlecht wie dem lyrischen Ich der Winterreise? – Wir wissen es nicht. Fest steht, dass Franz Schubert sich mit der Winterreise die Gedichte von Wilhelm Müller so zu eigen macht, dass man meinen könnte, er erzähle hier sein eigenes Leben. Im Grunde ist es aber eine universelle Lebensgeschichte, wie sie sich auf der ganzen Welt zu allen Zeiten abspielt – der tiefe Fall eines Menschen, verursacht durch eine gescheiterte Liebe, was eine Kette von schicksalhaften Entwicklungen nach sich zieht: Verlust des Arbeitsplatzes, Kündigung der Wohnung, Leben auf der Straße. Viele Menschen erleben genau das, wenn sie aus einem gut bürgerlichen Leben erst in die Armut und dann in die Obdachlosigkeit stürzen.
Während die meisten im echten Leben gerne einen großen Bogen um Menschen ohne Obdach machen, lassen sie die Nöte und Sorgen des Wanderers in der Winterreise doch an sich heran. Fluchtversuch vergeblich! Die Winterreise kommt einem nahe, ob man will oder nicht. Gerade dadurch, dass die Lieder keine konkrete Handlung erzählen, sondern wir sozusagen der inneren Stimme des wandernden Gesellen lauschen, zieht sie uns hinein. Tief in uns erinnern wir uns an eigene dunkle Momente, und wir wissen, dass ein derartiges Schicksal jede und jeden ereilen kann. Wir empfinden Nähe zum Wanderer und entwickeln Empathie.
Winterreise – einst und heute
Vielleicht war es damals so: Irritierte Gesichter, zweifelnde Blicke, und – passend zur eisigen Kälte, die besungen wird – kalte Füße. So könnten Schuberts Freunde an diesem Abend im zum Konzertsaal umfunktionierten Wohnzimmer gesessen haben. Die Musik genauso wie die ganz reale Situation haben etwas Existenzielles. Es geht um Leben und Tod. Zu dieser Zeit, an diesem Ort: Franz Schubert leidet unter Armut, die hygienischen Verhältnisse sind katastrophal, die Wohnungen sind im Sommer zu heiß, im Winter zu kalt. Es mangelt an Geld, auch an allem anderen. Armut ist vielen vertraut, sie ist nichts Fernes, sondern nah.
Heute hören wir Schuberts Winterreise satt und zufrieden daheim, vielleicht bequem im Ohrensessel mit einem Glas Rotwein in der Hand oder stilvoll nach allen Regeln des klassischen Konzertbetriebs: »Zwei Herren im Frack, Steinway, ein meist sehr großer Saal.« So beschreibt Komponist Hans Zender das übliche Setting für die Winterreise. Er findet es unpassend, weil zu distanziert, und möchte die Rituale des Konzertbetriebes aufbrechen. Also knöpft er sich das Werk vor und löst nicht nur gängige Aufführungsregeln auf, sondern schreibt auch gleich noch Schuberts Original um: als »komponierte Interpretation«.
Die Intimität des kammermusikalischen Originals mit Gesang und Klavier mutiert zu einem schillernd-symphonischen Kaleidoskop. Es wird aber nichts »schönkomponiert«, ganz im Gegenteil: Hans Zender holt die Winterreise ins 20. Jahrhundert. Er ernennt sich selbst zum »Mitautor«, indem er aus der »historischen Asche neue Funken« schlägt. Dabei bleibt das Herz der Winterreise unangetastet. Der Tenor singt fast immer die originalen Schubert-Melodien. Neu ist die Auffächerung der eigentlichen Klavierbegleitung ins Orchester. Überraschend ist auch die Besetzung: Hans Zender verwendet für das 25-köpfige und damit eher kammermusikalische Orchester neben den klassischen Holz- und Blechblasinstrumenten sowie Streichern, Harfe und Schlagwerk auch Instrumente, die normalerweise keinen Zutritt ins Orchester haben: Gitarre, Mundharmonika und Akkordeon. Das bringt volksmusikantisches, bodenständiges Flair. Fast schon filmmusikalisch kommen dagegen die stürmischen Sounds von drei Windmaschinen und Regenblechen daher. Und wenn die vier Schlagwerker auf Holzbalken und Metallschienen schlagen, dann hat das etwas von »Industrial Music«.
Die Musizierenden als Weggefährten
Auf Überraschungen sollte man ohnehin während des gesamten Werks gefasst sein. Gleich am Anfang hören wir eine Art »Störsound«: Wischbewegungen über die Tom-Tom-Trommel – es sind die Schritte des unglücklichen Wanderers. Damit nimmt Hans Zender Franz Schubert wörtlich: »In gehender Bewegung« steht im Original, hier also ist sie! Und auf einmal hört man dazu noch echte Schritte von ausgewählten Musiker*innen, die nicht etwa den Auftritt verpasst haben und deswegen zu spät dran sind, sondern – wie von Hans Zender in der Partitur vermerkt – während des ersten Liedes vorschriftsmäßig auf die Bühne kommen. Wandern total. Immer wieder wird es solcherlei Bewegung auf der Bühne geben. »Langsam und in sich versunken« sollen die Musizierenden gehen, steht in den Noten geschrieben: Sie werden zu Weggefährten des einsamen Wanderers.
Der grübelt und schraubt sich immer tiefer in sein Leiden hinein, abgesehen von einigen lichtvollen Passagen, in denen er entweder träumt oder hofft. Allerdings sollte man nicht denken, der Wanderer sei nur auf sich und sein individuelles Schicksal bezogen. Franz Schubert spannt den Bogen weiter: Das sich selbst ausschüttende »Ich« der Winterreise ist ein Mensch seiner Zeit, Bürger einer Gesellschaft, von Politik beeinflusstes Wesen. Wien um 1820 ist schließlich kein Ort der Freude, sondern ein Polizei- und Überwachungsstaat. Die Utopien von Freiheit und Demokratie erleiden eine herbe Bauchlandung. Und Fürst Metternich etabliert ein Spitzelsystem, das viele Intellektuelle in die innere Emigration treibt. Wer die Gedichte von Wilhelm Müller zu lesen bekommt, hat Glück, ist mutig oder beides: Denn Wilhelm Müllers Texte erscheinen in Zeitschriften, die teilweise verboten sind: Kauf und Verbreitung stehen unter Strafe. Franz Schubert beeindruckt das wenig, er kommt irgendwie ran an den verbotenen Stoff und liest. Erst die Texte zur Schönen Müllerin, dann die zur Winterreise. Glück für die Musikwelt! Denn auch wenn der Stoff nicht gerade gemütsaufhellend wirkt, so ist die Winterreise im Original wie in der Fassung von Hans Zender doch ein Juwel der Musikgeschichte und kann gerade durch seine schonungslose Offenheit eine seelisch positive Wirkung entfalten: eine Art Reinigung, indem man sich den eigenen Ängsten und Abgründen stellt, auch dem Tod.
Jammernde Posaune und knarzende Streicher
Aber von vorne: Einen Zyklus mit einem Lied namens Gute Nacht zu beginnen ist in etwa so, wie wenn wir morgens unserem Liebsten oder unserer Liebsten gleich nach dem Aufstehen »Gute Nacht« zurufen würden. Die Message: Es lohnt sich nicht, du kannst auch liegen bleiben. Im Falle des Wanderers aus der Winterreise wissen wir von Anfang an: Das wird kein Spaziergang, sondern ein hoffnungsloses Umherwandern. In Zenders Version sollten die Ohren während dieser Seelentour allezeit gespitzt sein für zahlreiche Special effects, beispielsweise bedrohliche Hunde-Sounds auf die Worte »Lass irre Hunde heulen« im ersten Lied oder stürmische Klänge von drei Windmaschinen in Wetterfahne. Wettermäßig wild wird es später dann noch einmal zugehen, wenn im Stürmischen Morgen Regenbleche prasseln und der symphonische Sturm jegliche Gesangsbögen des Solisten zerfetzt. Auch der Tenorsolist lässt das Publikum staunen, wenn er mehrfach Schubert’schen Schönklang links liegen lässt und stattdessen in Sprechstimme skandiert, so gleich im Anfangslied Gute Nacht auf die Worte: »Die Liebe liebt das Wandern, fein Liebchen, gute Nacht! Von Einem zu dem Andern, fein Liebchen, gute Nacht!« Das klingt wie ein wutschnaubender Vorwurf – möglicherweise gar an den Allerhöchsten, an Gott, der sich allerdings taub stellt.
Der einsame Wanderer kriegt den Blues: Im Lindenbaum legen Oboist und Klarinettist ihre eigentlichen Instrumente auf die Seite und packen ihre Mundharmonikas aus. Mit denen begleiten sie den größten Hit aus der Winterreise: Das wirkt wunderbar schräg und sehr melancholisch. Bis im nächsten Lied eine Wasserflut ausbricht und der »weiche Schnee zerrinnt«, klangmalerisch ausgespielt von den Geigen und Bratschen, begleitet vom Akkordeon, das diesem Lied einen ganz besonderen Klangfarbentouch verleiht. Was man so schnell nicht aus dem Ohr bekommen wird, sind die Posaunenrufe, die das ganze Stück hindurch »jammern«.
Obwohl der Sänger so viel leistet, darf er nicht mal ausreden, also aussingen: Im Lied Auf dem Flusse wird er mitten im Satz unterbrochen! »Ob’s unter seiner Rinde wohl auch so reißend …« – das ganze Orchester grätscht scharrend, knarzend, lärmend dazwischen – »… schwillt?« Der Sänger macht unbeirrt weiter, so wie der Wanderer einfach weiterläuft – trotz allem. Während der Protagonist sich vorwärtsbewegt, ist die innere Blickrichtung rückwärtsgewandt: In Rückblick sinniert er über die Vergangenheit, währenddessen einige Musiker sich ganz real zurückziehen – auf »Fernorchesterposition«.
Ein Lichtstrahl erreicht die Zuhörenden im Frühlingstraum, wohltuend hell und zart instrumentiert mit Harfe und Streichern – allerdings währt die Idylle nicht lange, und der Wanderer landet, aus dem Traum erwacht, in der Einsamkeit. Die Brutalität der seelischen Isolation führt uns Komponist Hans Zender unmittelbar vor Ohren, wenn er den wohlklingenden Streichersatz und den Gesang des Solisten mit unerbittlichen Schlägen auf einen Holzbalken flankiert. Ebenso ungemütlich ist es Im Dorfe, wo die kläffenden Hunde zurückkehren und die Streicher auf den Saiten knarzen. Woodblock, Metallschiene und Tam-Tam tun das Ihrige, um das Drama zu steigern.
Im Wirtshaus geht es dann gar nicht lustig zu. Das nur mit Bläsern besetzte Lied ist astreine Begräbnismusik – und der Wanderer gesteht sich selbst ein, dass er »tödlich schwer verletzt« sei. Dann wird wieder wild gekurbelt – alle drei Windmaschinen machen Action in Mut, so dass dem Sänger kaum mehr Luft zum Atmen bleit – er muss zweimal ansetzen, um seinen Halbsatz »Fliegt der Schnee mir ins Gesicht« zu Ende zu führen. Die Klangmischung aus Bläsern und Streichern, ergänzt von Tambourin, Kastagnetten, Rührtrommel, Gitarre und Akkordeon sowie hängendem Becken vermittelt etwas Schräg-Skurriles. Die Musik poltert, wirkt ironisch und zwanghaft: Sie entlarvt den hier besungenen »Mut« als Verdrängung.
Ein Happy End wird es trotz aller Bemühung nicht geben. Der Leiermann beendet den Winterreise-Zyklus mit Drehfiguren in Flöte und Saxophon sowie Bordunklängen in den Streichern – Vergeblichkeit ist das Ostinato dieses Schluss-Liedes. Im Raum steht am Ende eine Frage »Willst zu meinen Liedern deine Leier drehen?« Und dann treten, während die Musik noch läuft, die Musizierenden ab – zurück bleibt der einsame Wanderer mit ziehenden-zehrenden Klängen aus dem immer kleiner werden Ensemble. Franz Schubert ist in der Gegenwart angekommen.