Lebensdaten des Komponisten
2. Juni 1857 in Broadheath bei Worcester – 23. Februar 1934 Worcester
Entstehungszeit
1898/1899
Widmung
»To my friends pictured within«
Uraufführung
19. Juni 1899 in der St. James’ Hall in London unter der Leitung von Hans Richter
Das Werk beim BRSO
Erstaufführung: 7./8. März 1991 in der Philharmonie im Gasteig unter Neville Marriner
Weitere Aufführungen unter Hugh Wolff, Sir Colin Davis, Joseph Bastian und Daniel Harding
Zuletzt auf dem Programm: 1./2. Juli 2021 im Herkulessaal unter der Leitung von Edward Gardner (unter Corona-Auflagen)
»Für gewöhnlich setzt man das Jahr 1880 für den Beginn der ›neuen Renaissance‹ innerhalb der englischen Musik an. Für mich begann sie etwa 20 Jahre später, als ich gerade Elgars ›Enigma-Variationen‹ kennenlernte. Ich fühlte, dies war Musik von einer Art, wie sie in diesem Land seit dem Tode Purcells nicht mehr aufgetreten war.« Gustav Holst hatte nicht untertrieben: Edward Elgars Enigma-Variationen markieren in der Tat einen Wendepunkt innerhalb der englischen Musikgeschichte, der selbst die von Hubert Parry, Charles Villiers Stanford und anderen führenden englischen Musikern initiierte Aufbruchsbewegung der 1880er Jahre klar in den Schatten stellte.
Zum ersten Mal – nicht erst seit dem Tode von Purcell, sondern überhaupt – war es einem britischen Komponisten gelungen, ein symphonisches Werk zu schaffen, das beim englischen Publikum einen mehr als kurzfristigen Erfolg verbuchen konnte und darüber hinaus auch auf internationaler Ebene den Ruf eines Meisterwerks erlangte. Freilich stand auch zuvor Symphonik bei den Briten in hohen Ehren. Doch allein der Gedanke, dass sich ein englischer Komponist auf diesem Terrain bewähren könnte, musste im Lande der Chorfestivals und Music Halls geradeheraus für Hybris gehalten werden. Fand in den Augen der britischen Zeitgenossen die eigene Musikgeschichte ihre Krönung auf dem Gebiet des Oratoriums, so sah man die Symphonik (und zumal die von künstlerischem Rang) fest in den Händen der Deutschen.
Orchestrale Werke wurden in England somit fast ausschließlich als Importgut geschätzt, das beinahe unabdinglich das Gütesiegel »Made in Germany« tragen musste. Folglich waren britische Komponisten, die in der Heimat mit Symphonien reüssieren wollten, gezwungen, entweder selbst in Deutschland zu studieren oder zumindest die deutschen »Klassiker« Beethoven, Mendelssohn, Brahms und Wagner gut zu kopieren – ein Dilemma, an dem gerade die Vorkämpfer einer eigenständigen englischen Symphonik verzweifeln mussten. Umso größer war die Überraschung, als im Jahr 1899 die Orchestervariationen des englischen Eigengewächses und Autodidakten Edward Elgar mit geradezu elektrisierender Heftigkeit eine Welle der Begeisterung auslösten, die urplötzlich das ganze Land erfasste: Elgars Variationen über ein eigenes Thema hatten bewiesen, dass die englische Musik durchaus imstande war, aus eigener Kraft symphonische Werke von höchstem Anspruch hervorzubringen. Das Eis war gebrochen, mit den Enigma-Variationen hatte Elgar den symphonischen Werken von Hubert Parry, Gustav Holst, Ralph Vaughan Williams und Benjamin Britten den Weg geebnet.
Erster durchschlagender Erfolg
Läuteten Elgars Enigma-Variationen eine nationale musikalische Renaissance ungekannten Ausmaßes ein, so markierten sie zugleich den endgültigen Durchbruch Elgars selbst als Komponist. Obgleich sich schon früh seine außerordentliche musikalische Begabung erkennen ließ, blieb dem Sohn eines Klavierstimmers und Musikalienhändlers aus Worcester aufgrund seiner Klassenzugehörigkeit nichts anderes übrig, als sich durch Selbststudium und Engagement im örtlichen Musikvereinswesen musikalisch fortzubilden. Um überhaupt als Komponist existieren zu können, musste sich Elgar zudem lange Jahre verschiedenen Zwängen unterwerfen: Die Aufführung einer eigenen Komposition oder gar deren Publikation als Klavierauszug gelang lediglich bei Auftragswerken für die zahlreichen Chorfestivals (wie z. B. das Three Choirs Festival), die sich gerne mit Uraufführungen schmückten; für diese Anlässe freilich kamen ausschließlich Chorkantaten oder Oratorien in Betracht.
Ein weiterer Einkommenszweig, auf den Elgar bis ins vorgerückte Alter nicht verzichten konnte, waren Salonstücke und gehobene Unterhaltungsmusik, die, für den breiten Markt bestimmt, zumindest ein gewisses Verlagshonorar einbrachten. Und drittens sah sich Elgar genötigt, einen weiteren Teil seines Lebensunterhaltes durch privaten Geigenunterricht zu verdienen. Erst die Enigma-Variationen verhalfen dem bereits 42-jährigen hochambitionierten Komponisten zum ersten durchschlagenden Erfolg, dem bald eine Reihe weiterer so bedeutender wie gefeierter Werke folgen sollten: die Märsche Pomp and Circumstance, das Oratorium The Dream of Gerontius und die Erste Symphonie.
Musikalische Bildergalerie
Dass allerdings aus Edward Elgar, der zuvor lediglich regionale Berühmtheit als Chor- und Unterhaltungskomponist erlangt hatte, auf einen Streich ein Symphoniker von nationalem und internationalem Rang wurde, ist letztlich einem Zufall zu verdanken. Zumindest Elgar selbst stellte dies in Gesprächen verschiedentlich so dar. Nach eigenem Bekunden kam er am 21. Oktober 1898 nach einem anstrengenden Arbeitstag als Geigenlehrer erschöpft nach Hause, setzte sich ans Klavier und improvisierte zur Entspannung aufs Geratewohl. Plötzlich rief seine Frau Alice, von einer Melodie gerade besonders angetan, spontan aus: »Was ist denn das?« – »Nichts – aber es könnte etwas daraus werden.« Daraufhin vergnügte er sich damit, den thematischen Gedanken aus dem Stegreif so zu variieren, dass er charakteristische Eigenheiten bestimmter Personen aus seinem Bekanntenkreis porträtierte.
Gleich wie man dieses autobiographische Zeugnis bewertet (dessen Gültigkeit übrigens immer wieder in Zweifel gezogen wurde), so trifft es doch den wesentlichen Kern der Variationen op. 36: Im Anschluss an die Vorstellung eines dreiteiligen Themas entspinnt sich eine lose Folge von Variationen, die jeweils bestimmte Eigenschaften von Personen aus Elgars Bekanntenkreis imitieren oder karikieren. Dabei verfolgte Elgar keineswegs das Ziel, seinen engsten Familien- und Freundeskreis systematisch zu verewigen, wie es sich etwa Richard Strauss nicht ohne Augenzwinkern in seiner Sinfonia domestica vorgenommen hatte. Auswahlkriterium für die Aufnahme in Elgars musikalische Bildergalerie bildete vielmehr die schlichte Frage, ob ihn eine bestimmte Person zu einer »Charaktervariation« inspirierte. Dies erklärt, warum eine nicht geringe Anzahl von persönlichen Vertrauten und Familienangehörigen ausgespart blieb.
Zum Schluss ein Selbstporträt
Darüber hinaus hob die assoziative, beinahe willkürlich reihende Zusammenstellung Elgars Variationenzyklus von den zielgerichtet fortschreitenden Vertretern dieser Gattung ab, wie sie etwa in den Variationen von Johannes Brahms eine mustergültige, für das teleologische und organistische Denken des 19. Jahrhunderts charakteristische Ausprägung erhielten. Als Konsequenz daraus ergab sich ferner, dass Elgar nicht das Verfahren wählte, ein eingangs aufgestelltes Thema in einzelne Elemente zu zergliedern und deren Möglichkeiten systematisch zu entfalten, bis das ursprüngliche Thema am Endpunkt des Prozesses, auf einer höheren Reflexionsstufe angelangt, ein zweites Mal erklingt. Im Gegensatz dazu bleibt in den Enigma-Variationen, wenngleich natürlich auch sie von submotivischer Arbeit geprägt sind, das Thema in fast allen Variationen als melodische Wesenheit erhalten, die freilich dem Charakter der Person oder Situation entsprechend abgewandelt erscheint.
Die assoziative Herangehensweise ließ Elgar aber auch die Freiheit, Charakterstücke aufzunehmen, die mit dem Thema allenfalls auf einer sehr abstrakten Ebene verwandt sind und deshalb auch eigene Satzbezeichnungen tragen: Das delikate Intermezzo Nr. 10 porträtiert mit seinen schwerelos-duftigen Streicherklängen die entzückende Eleganz von Dora Penny, in Anlehnung an Mozarts Così mit dem Kosenamen Dorabella bedacht; die auf diesen Namen zu deklamierende Holzbläserfigur ahmt dabei liebevoll ihr leichtes Stottern nach. Nr. 13 trägt den Titel Romanza und ist in ihrer zart-verhaltenen Melodik und den sanften Rückungen in entfernte Tonarten als Huldigung an eine große Liebe zu verstehen. Die gemeinte Person, hinter der oft Lady Mary Lygon vermutet wird, bleibt dabei als Chiffre »***« im Dunkeln.
Das nicht eindeutig aufzulösende Mendelssohn-Zitat aus Meeresstille und Glückliche Fahrt verstärkt die geheimnisvolle Aura dieser vorletzten Station, bevor der Zyklus in Nr. 14 (E.D.U.) gipfelt: ein als Doppelvariation angelegtes grandioses Selbstporträt des Komponisten (von seiner in Nr. 1 porträtierten Gattin Alice liebevoll »Edoo« genannt), dessen erhabener Marschcharakter bereits Pomp and Circumstance vorwegnimmt. Mit derart eindrucksvollen Zügen ist sonst im Zyklus nur noch August Johannes Jaeger gezeichnet, Mitarbeiter beim Londoner Verlagshaus Novello und darüber hinaus enger Vertrauter, Förderer und geschätzter Kritiker Elgars. Die ihm gewidmete Variation Nr. 9 Nimrod (nach dem mythischen Jäger aus dem Alten Testament) steigert sich von anrührender Zartheit in einer gigantischen Klimax bis hin zur würdevoll-strahlenden Apotheose.
Ein Großteil der Variationen ist freilich nur indirekt als Charakterisierung einzelner Personen zu verstehen: Die Variationen etwa, die Elgars Kammermusikfreunden, dem Amateurpianisten Hew David Stuart-Powell (Nr. 2), der Bratschistin Isabel Fitton (Nr. 6) und dem Cellisten Basil G. Nevinson (Nr. 12) zugeeignet sind, stellen etwa weit mehr den Charakter des betreffenden Instruments heraus als deren persönliche Eigenheiten. Andere Variationen wurden insbesondere durch prägnante Erlebnisse inspiriert: Das wichtigtuerische Poltern von Nr. 4 beispielsweise karikiert William Meath Baker, einen Freund von Alice, der nach einem großspurigen Verkünden von Neuigkeiten mit einem lauten Türknall verschwunden sein soll. Und in der explosiv-energischen Variation Nr. 11 steht nicht der durch die Initialen G.R.S. genannte Hereforder Organist George Robertson Sinclair im Vordergrund, sondern vielmehr sein Hund Dan: Im Eifer des Gefechts stürzte sich dieser, als er seinem Herrn ein Stöckchen holen wollte, in den Fluss Wye, paddelte heftig nach dem Stöckchen und apportierte es seinem Herrchen schließlich mit einem stolzen Bellen.
Zwischen Programmatik und Symphonik
Es ist offensichtlich, dass musikalische Porträts, die sich auf derartige Einzelheiten stützen, nicht ohne detaillierte Vorinformationen aus der Komposition herausgehört werden können. Aber gerade darin liegt der eigentümliche Reiz, der Elgars Enigma-Variationen einen schillernden Schwebezustand verleiht zwischen radikaler Programmatik, die den einzelnen Variationen zu Grunde liegt, und absolut-symphonischer Wirkung, die sich beim uneingeweihten Hörer einstellt. Nicht ohne Grund also hat der Symphoniker Elgar den Schleier des Geheimnisses um die Inspirationsquellen dieses Zyklus gehüllt, u. a. indem er das Thema selbst als »Enigma« bezeichnete und sich zudem in kryptischen Äußerungen über sein op. 36 erging: »Es ist in der Tat wahr, dass ich die Eigenheiten von 14 [!] meiner Freunde, die nicht unbedingt Musiker waren, zu ihrem und meinem Vergnügen skizziert habe; aber das ist etwas Persönliches und braucht nicht öffentlich erwähnt zu werden. Die Variationen sollen für sich als ›Musikstück‹ stehen. Das Enigma werde ich nicht erklären – seine ›dunkle Rede‹ darf nicht erahnt werden, und ich warne Sie, dass Variationen und Thema oft nur sehr schwach miteinander verbunden sind; ferner zieht sich durch und schwebt über dem ganzen Zyklus ein größeres Thema, das nicht gespielt wird. […] Das Hauptthema erscheint also niemals, ganz wie in einigen neuen Dramen, z. B. Maeterlincks ›L’intruse‹ und ›Les sept Princesses‹ – die Hauptperson ist nie auf der Bühne.«
Was Elgar mit diesem eigentlichen Thema seiner Variationen op. 36 gemeint hat, bleibt trotz wildester Spekulationen (die Vorschläge reichen vom düsteren Dies irae bis zum munteren Trinklied For he’s a jolly good fellow) nach wie vor im Dunkeln. So programmatisch die Enigma-Variationen also eigentlich zu verstehen wären, das Rätsel verstellt unweigerlich den Zugang zu diesem Aspekt des Zyklus und erlaubt gerade deshalb die angemessene Würdigung unter den Prämissen absoluter Symphonik – Symphonik von solcher Tiefe, dass sie die von Holst beschworene »Renaissance« der englischen Musik einleiten sollte.