Lebensdaten des Komponisten
27. Juli 1877 in Pozsony / Preßburg, Königreich Ungarn – 9. Februar 1960 in New York City
Entstehungszeit
1933 (op. 36); 1914 (op. 25)
Widmung
Der Budapester Philharmonischen Gesellschaft (op. 36)
Uraufführung
23. Oktober 1933 in Budapest mit dem Philharmonischen Orchester unter der Leitung des Komponisten (op. 36);
17. Februar 1914 in Berlin mit Ernst von Dohnányi am Klavier (op. 25)
Die Werke beim BRSO
Erstaufführungen
Symphonien waren längst keine Frage von Minuten mehr. Im 18. Jahrhundert wurden »Sinfonien« noch für die verschiedensten Anlässe und Besetzungen geschrieben, etwa als Einleitungsstück einer Oper oder einer Partita, aber in jedem Fall kurz und pointiert. Johann Sebastian Bachs Neunte Sinfonie benötigt nur zwei Minuten und drei Stimmen: ein Klavierstück für Kompositionsschüler. Doch auch die von einer Hofkapelle oder einem städtischen Collegium musicum gespielten Orchestersinfonien waren knappe, zugespitzte, auf wenige Minuten begrenzte Werke. Spätestens mit Ludwig van Beethoven änderten sich die Zeiten und die Maße, seine Symphonien weiteten sich ins Programmatische und Weltanschauliche: Beethovens Neunte braucht über eine Stunde und außer dem Orchester noch einen Chor und vier Solisten. Der exzentrische französische Romantiker Hector Berlioz potenzierte die Symphonie zum Roman und zum Schauspiel. Bei Anton Bruckner nahm sie den Rang einer abendfüllenden Kulthandlung ein, und Gustav Mahler erklärte so selbst- wie sendungsbewusst: »Aber Symphonie heißt mir eben: mit allen Mitteln der vorhandenen Technik eine Welt aufbauen.«
Allerdings bestanden immer auch Zweifel an der Monumentalisierung der Musik. Franz Liszt lobte die Mazurken seines Kollegen Chopin ausdrücklich, weil sie an Wert »sehr langen Opern« gleichkämen, obwohl sie jede nur ein paar Takte beanspruchten. Und gerade dem Ideal der symphonischen Größe opponierte über Jahrzehnte hinweg eine produktive Gegenbewegung: Komponisten, die sich unbeirrt für traditionelle Formen, lichte Texturen und schlank bis solistisch besetzte Orchester entschieden, die immer noch witzige, spritzige und vergleichsweise kurze Symphonien schrieben: am berühmtesten die C-Dur-Symphonie von Georges Bizet und Sergej Prokofjews ironische und respektlose Symphonie classique. In dieselbe Richtung oder Gegenrichtung ging auch der Ungar Ernő (für das deutschsprachige Publikum: Ernst von) Dohnányi mit seinen Symphonischen Minuten op. 36, die er 1933 zum 80-jährigen Gründungsjubiläum der Budapester Philharmonischen Gesellschaft komponierte.
Dohnányi hatte zuvor schon »normale«, ausgewachsene Symphonien für großes Orchester geschrieben und sollte es auch später noch tun. Aber mit seinen Minuten, die sich gerade einmal zur Gesamtspieldauer einer Viertelstunde addieren, unterlief er alle Erwartungen an eine auftrumpfende Festmusik, ein in Raum und Zeit ausgreifendes Spektakel. Dabei zeigt sich der Meister hier gerade nicht in der Beschränkung, sondern in der Verschwendung. Denn obgleich seine Partitur eher einer Broschüre als einem Wälzer ähnelt, wimmelt es auf den wenigen Seiten nur so von Ideen, Anspielungen, Überraschungen, alles geht Schlag auf Schlag. Eine überschäumende Musik, bei aller Kürze: Dohnányi schuf Symphonische Minuten, aber keine aphoristischen Miniaturen. Er legte sogar Mustersätze vor wie das Scherzo, die Variationen oder das Rondo-Finale, die in jeder Symphonie am Platz wären, auch wenn die insgesamt fünf Stücke ebenso gut in ein Ballett-Divertissement, ein Konzert für Orchester oder eine Suite »im alten Stil« passten.
Ernő Dohnányi, der 1877 noch in der habsburgischen Doppelmonarchie zur Welt gekommen war, im damals ungarischen Pozsony oder Preßburg, dem heute slowakischen Bratislava, hatte sich um die Zeit der Symphonischen Minuten eine unangefochtene musikalische und musikpolitische Vormachtstellung erworben: Er leitete als Chefdirigent das Philharmonische Orchester Budapest, amtierte als Musikalischer Direktor des Ungarischen Rundfunks und der Königlich-Ungarischen Musikhochschule, gehörte als Senator dem Oberhaus des Parlaments an und empfing mit der Corvinus-Kette die höchste Auszeichnung des Landes für Künstler und Wissenschaftler. Dass ihm aber all diese Ehren unter dem autoritären Regime des Reichsverwesers Miklós Horthy zuteilwurden, in einem Staat von völkisch-nationalistischer und nicht nur offen, sondern sogar offiziell antisemitischer Ausrichtung, setzte ihn nach dem Zweiten Weltkrieg ins Unrecht.
Im kommunistischen Ungarn traf ihn der Bann, sein Name und seine Werke verfielen dem angeordneten Vergessen; aber auch im Westen musste er einen rapiden Ansehensverlust ertragen. Dohnányi verbrachte seine letzten Lebensjahre erst im argentinischen, danach im US-amerikanischen Exil. Er starb 1960 in New York. Doch sollte gerechterweise nicht verschwiegen werden, dass er die jüdischen Musiker in seinem Orchester vor der Entrechtung und Entlassung schützte und 1941 seinen Direktorenposten an der Hochschule aufgab, als sich Ungarn bis ins Innerste dem nationalsozialistischen »Dritten Reich« unterwarf. Dass der Name Dohnányi mit höchstem Respekt genannt wird, liegt in allererster Linie an dem Sohn des Komponisten, dem Juristen Hans von Dohnányi, der sich dem Widerstand gegen Hitler anschloss und im Konzentrationslager Sachsenhausen umgebracht wurde. Seine Söhne, Ernős Enkel, sollten im Nachkriegsdeutschland eine prominente Rolle spielen: der Politiker Klaus und der Dirigent Christoph von Dohnányi.
Musikalischer Weltbürger
Anders als seine jüngeren Landsleute Béla Bartók und Zoltán Kodály, die übers Land reisten, Volkslieder sammelten und aus der ältesten Musik die fortschrittlichsten Konsequenzen zogen, blieb Ernő Dohnányi von diesem Aufbruch, dieser musikalischen »Wiedergeburt« unberührt. Ihn reizten weder die archaischen noch die avantgardistischen Perspektiven der Tonkunst, er stand der Nationalromantik ebenso fern wie der radikalen Moderne. Bezeichnenderweise steuerte Bartók zum Jubiläumskonzert der Budapester Philharmonie im Oktober 1933 Fünf ungarische Volkslieder bei, Kodály die Tänze aus Galánta und Dohnányi – die Symphonischen Minuten, in denen Folklorismus allenfalls als aparte exotische Note oder Couleur locale zu entdecken ist. Wenn überhaupt. Die Rapsodia, der zweite Satz, erinnert mit ihren frei schweifenden, ornamental umspielten Melodien von fern an Liszt und dessen Ungarische Rhapsodien.
Wer will, kann aus dem Capriccio einen Walzer, aus dem Scherzo einen Flamenco und aus dem Finale einen Csárdás heraushören, aber diese und andere Assoziationen bleiben unverbindlich und unaufdringlich. Auch das »Tema del seicento«, das vom Englischhorn vorgetragen und in der vierten Minute kontrastreich variiert wird, dieses (imaginäre?) Thema aus dem Italien des 17. Jahrhunderts schenkt der Musik eine anziehend fremdartige Tönung, aber keine historische Umkehr, keinen Bruch mit den zeitgenössischen Hörgewohnheiten. Dohnányi komponierte für seine Philharmoniker fünf brillante, solistisch profilierte Stücke, ein Orchesterporträt, das die Jubilare effektvoll und glamourös in Szene setzte, ein raffiniertes, unterhaltsames, schwelgerisches und humoristisches Potpourri. In ein paar Minuten erprobt Dohnányi die symphonischen Spielräume und erweist sich bei diesem rasanten Parcours als ein undogmatischer Geist und musikalischer Weltbürger.
Und als ein Alleskönner von sympathischer Selbstironie. Diese gewitzte Souveränität im Umgang mit der Musik und ihren Mythen (und der eigenen Meisterschaft) hatte Dohnányi, als müsste er sich für seine heitersten Werke immer die finstersten Jahre der Geschichte aussuchen, bereits 1914 an den Tag gelegt: mit den Variationen über ein Kinderlied für Klavier und Orchester op. 25. Dohnányi lebte seinerzeit noch in Berlin, lehrte als Professor an der Königlich Akademischen Hochschule, und dort, in seiner damaligen deutschen Wahlheimat, brachte er die Variationen auch wenige Monate vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs, am 17. Februar 1914, zur Uraufführung. Er selbst, ein gefeierter Mozart-, Beethoven- und Brahms-Interpret, spielte den ebenso kniffligen wie wetterwendischen Solopart. Das Konzertstück beginnt mit einem Vorspiel wie zu einem Wagnerischen Weltuntergangsdrama: Die Trompeten des Jüngsten Gerichts erschallen, der Weltenbrand lodert auf, und in diese musikalische Apokalypse mischt sich auch noch der markerschütternde Paukendonner aus Brahms’ d-Moll-Klavierkonzert.
»Freunden des Humors zur Freude«
Aber Dohnányi stellte seinen Variationen eine Warnung voran, eine inoffizielle Widmung: »Freunden des Humors zur Freude, den Anderen zum Ärger.« Schon mit der düsteren Introduktion legt Dohnányi die erste falsche Fährte, lockt seine Hörerschaft mit Pomp und Pathos in die Falle und wartet mit einer wunderbaren Pointe auf. Denn nach einem kurzen Zirkustusch präsentiert der Pianist ein völlig undramatisches und unerwartet harmloses Thema, das jeder kennt und sogleich mitpfeifen könnte. Dieses »Kinderlied« entstand ursprünglich als galantes Schäferspiel, eine französische Romance, über die schon Mozart 1781 Klaviervariationen geschrieben hatte. »Ah, vous dirai-je, Maman, / Ce qui cause mon tourment? / Depuis que j’ai vu Silvandre / Me regarder d’un air tendre / Mon coeur dit à chaque instant: / ›Peuton vivre sans amant?‹ «, fragt eine verliebte Schäferin ihre Mutter. »Ach, soll ich Ihnen sagen, Mutter, was mich quält? Seitdem ich gesehen habe, wie Silvandre mich so zärtlich anschaut, fragt mein Herz mich immerzu: ›Kann man ohne Geliebten leben?‹ « Auch in der deutschsprachigen Fassung des populären Liedes dreht sich alles um einen sehnlichst erwünschten Herrenbesuch: Allerdings wird in dieser Version nicht der schlimme Silvandre erwartet, sondern – »Morgen kommt der Weihnachtsmann«. In England aber singen Alt und Jung auf dieselbe schlichte Weise das sternfunkelnde Wiegenlied »Twinkle, twinkle, little star«.
Ernő Dohnányi variiert das international bekannte und zeitlos eingängige »Kinderlied« bis zur völligen Unkenntlichkeit. Wie ein Joker kann das Thema für jeden Stil, jede Farbe, jeden Charakter und jedes Temperament einstehen. Alles sieht ihm ähnlich (Glenn Gould sprach von einem »parodistischen Konzertkommentar«). Es klingt wahlweise nach Brahms, Liszt, Tschaikowsky oder Rachmaninow, nach dem Zauberlehrling von Dukas oder dem Karneval der Tiere von Saint-Saëns, tanzt Wiener Walzer, paradiert zu einem grotesken Marsch, verwandelt sich in eine Spieluhr, vergeht vor Weltschmerz, greift in die Trickkiste endlos hochgeschraubter Steigerungen, stimmt einen feierlichen (aber zugleich veralberten und merkwürdig modernistisch verfremdeten) Choral an – und liegt zwischenzeitlich doch ziemlich desolat und demoliert am Boden. Zu guter Letzt aber erfreut oder ärgert Dohnányi sein Publikum noch mit einem Fugato, der kontrapunktischen Krönung seiner Variationen. Bei Licht besehen: eine Persiflage auf den sprödesten Stoff der akademischen Lehrbücher und obendrein ein maliziöser musikalischer Spaß. Das letzte Wort aber erhält wieder das kinderleichte Thema: zum doppelbödigen Happy End einer hintersinnigen Maskerade und hemmungslosen Typenkomödie.