Lebensdaten des Komponisten
Geb. am 3. Oktober 1936 in New York
Entstehungszeit
1988 für das Kronos Quartet
Uraufführung
2. November 1988 in London durch das Kronos Quartet
»Von Ost und von West kamen die Eisenrosse hergesprengt und hielten nahe einander gegenüber, sich mit der gellenden Stimme des Dampfes begrüßend.« Im Mai 1869 war mit diesem großen Moment eine gigantische Eisenbahnlinie vollendet, die nun Amerikas Ost- und Westküste verband. Euphorisch gefeiert, wurde der »Pacific Railroad«, wie die Zeitschrift Gartenlaube weiter berichtet, zum Sinnbild von Naturbeherrschung, Fortschritt und Zivilisation: »über weite Thäler und reißende Ströme, durch die Tiefen des Gebirges hin rast der menschenbeschwerte Dampfzug, durchkreuzt endlos scheinende Wüsten und trägt die Cultur in das Innere eines Erdtheils.«
Auch der kleine Steve aus New York sollte einst von der Verbindung profitieren. Seine Eltern waren nicht nur geschieden, sie lebten auch 2800 Meilen voneinander getrennt, die Mutter in Los Angeles. Zwischen 1938 und 1942 fuhr er in Begleitung eines Kindermädchens mehrmals die Strecke, was er als sehr »aufregend und romantisch« empfand. Später, als Erwachsener, kam ihm der erschreckende Gedanke, »dass ich als Jude im Europa dieser Zeit in ganz anderen Zügen hätte fahren müssen«. Das heißt konkret: eingepfercht in einen Viehwaggon, auf dem Weg in ein KZ. Die Nazis nutzten die Schiene sehr effektiv bei der Deportation und Vernichtung von Millionen von Menschen. Die Eisenbahn als segensreicher Fortschritt und Mittel irrsinniger Barbarei: Steve Reich, einer der bedeutendsten Komponisten Amerikas, wollte ein Werk schaffen, das »beide Welten genau widerspiegeln würde.« So entstand Different Trains.
Pionier der Minimal Music
In beträchtlicher Distanz zur europäischen Musiktradition besteht die Minimal Music, aufgekommen im Amerika der 1960er Jahre, zumeist aus gleichförmig wiederholten Mustern von Tönen und Rhythmen. Diese sogenannten Patterns bilden ein stetig pulsierendes Klangband, ein Kontinuum, das die Zeit scheinbar füllt wie Muster eine Tapete. Oberflächlich entsteht der Eindruck einer fast maschinellen Monotonie, zumal Melodie und Harmonik wirklich eine minimale Rolle spielen. Aber gerade der Rhythmus bewirkt durch winzige Verschiebungen dann doch einen musikalischen Prozess. Dieses Changieren zwischen Gleichheit und Verwandlung lässt sich am besten erleben durch meditative Versenkung. Man taucht ein in ein anderes Gefüge von Raum und Zeit. Steve Reich, ein Pionier der Minimal Music, benutzte zunächst Tonbandgeräte und Sprachaufnahmen, um solche graduellen Prozesse zu erzeugen. Kleine Satzfetzen spielte er in Schleife ab, parallel auf zwei oder mehreren Maschinen, die natürlich nie exakt synchron liefen. Langsam verschoben sich die Stimmen zu Echos, Kanons und Überlagerungen, die wiederum neue Muster bildeten. Aber Reich ging es nicht nur um das Experiment. In seinem ersten Stück, It’s Gonna Rain von 1965, ist etwa ein Straßenprediger zu hören, der vor einer neuen Sintflut warnt. Noch in der technisch manipulierten Sprache stecken menschliche Energie und Emotionen.
Da Reich den spontanen Akt der Aufführung nicht missen wollte, komponierte er bald wieder für »echte« Menschen und Musikinstrumente. Dabei mied er lange Zeit die klassischen Besetzungen zugunsten von individuellen, auf die Idee eines Stückes zugeschnittenen. Different Trains, geschrieben 1988 für das Kronos Quartet, ist sein erstes Streichquartett, aber gerade hier bringt er wieder Techniken seiner Anfänge ins Spiel. Neben dem Ensemble auf der Bühne sind über Lautsprecher drei weitere zu hören, die vom Kronos Quartet auf Tonband aufgenommen wurden. Damit ergibt sich ein enormer Zuwachs an Dichtegraden und Farben der Textur, wobei auch die Live-Spieler elektronisch verstärkt werden. Sie sollen »ein wenig lauter und kühner« herausklingen. Das rhythmische Grundmuster bildet ganz offensichtlich den fahrenden Zug ab, ein »Motiv« in wörtlichem Sinn, sich von der Stelle bewegend wie eine Lokomotive. Das Rattern der Schienen und der kreisende Mechanismus der Dampflok wirken ja selbst schon wie minimalistische Patterns. Dazu treten authentische Signaltöne, die amerikanischen hell und kraftvoll, die europäischen dünn und schrill.
Mit seinem Werk möchte Reich »zugleich eine dokumentarische und eine musikalische Realität« vermitteln. Entscheidend dafür sind die Stimmen vom Band. Es handelt sich um Erinnerungen von Zeitzeugen: Reichs Kindermädchen, ein Schaffner und vor allem drei Überlebende des Holocaust. Wieder werden isolierte Satzteile zum musikalischen Material. Diesmal jedoch setzt Reich deren Rhythmus und Sprechmelodie notengetreu in die Partitur ein, und die Streicher übernehmen sie ebenfalls. Damit wird auch der starre Puls der Zugfahrt rhythmisch aufgebrochen (wie gleich beim ersten Sprachfragment »from Chicago« spürbar). Nicht zuletzt auf diesem faszinierenden Zusammenspiel von Sprache und Musik, Mensch und Maschine beruht die herausragende Bedeutung von Different Trains.
Fortschritt und Abgrund
Vorangetrieben von großer Energie und gekleidet in prächtige Farben, zeigt der erste Satz America – Before the war nicht nur die Fahrt des kleinen Steve, sondern bringt auch den begeisterten Glauben an den Fortschritt, ja ein Stück des »American Dream« zum Ausdruck. Dieser Optimismus schlägt allerdings mit dem nahtlos anschließenden zweiten Satz um in einen wahren Alptraum: Europe – During the war. Wie selbst gequält von den Dissonanzen und schrillen Geräuschen schleppt sich der Zug vorwärts – der »menschenbeschwerte Dampfzug« von einst als grausiges Zerrbild. Es wird klar, dass der Horror mit den Deportationen begann, die bereits viele nicht überlebten. Wo schließlich die Musik bei »it was smoking« in einem aschfahlen Akkord erstarrt, schuf Reich eines der eindringlichsten Bilder für die Schrecken des Holocaust, eine Klangwüste, in der nichts Menschliches mehr existiert.
Umso befreiender, wie die Wiedergeburt von Licht, Luft und Leben, wirkt der dritte Satz After the war. Abgesehen von einem nostalgischen Rückblick zur Vorkriegszeit ersetzt nun die Sprachmelodie die ratternde Mechanik der Züge: Es stellt sich ein geschmeidiges, von kanonischen Mustern belebtes Pulsieren ein, der typische angenehme »Flow« der Minimal Music. Auf die hellen Klänge fallen allerdings auch Schatten. Bei den Worten »and when she stopped singing« gewinnt der Rhythmus mit einer Triole nochmals eine neue, tiefere Dimension. Dergestalt symbolisiert das singende Mädchen die leise Hoffnung auf die humanisierende Kraft der Musik – doch im zart verklingenden Schluss steckt auch das Wissen um die Zerbrechlichkeit jeden Friedens.